»Ich muss schon sagen, die braune Jacke passt wie angegossen.«
Die Knie krampfhaft zusammengepresst, wich sie dem Blick des Unbekannten aus, starrte sie wie in Trance an die gegenüberliegende Wand. Die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich, und je länger sie wie versteinert dasaß, das Gesicht glühend heiß wie eine Herdplatte, desto unverschämter die Blicke, mit denen der Unbekannte sie taxierte. Es war nicht das erste Mal, dass die Männer ihr schmachtende Blicke zuwarfen, und wenn sie ehrlich war, mitunter fühlte sie sich geschmeichelt. Anders als sonst hatte sie sich sogar geschminkt, aber nur dezent, weil es von den Parteioberen nicht gern gesehen wurde. Ihrem Kavalier hatte es jedenfalls gefallen, und das war ja wohl das Wichtigste. Und wenn die Männer sie anglotzten, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen – na wenn schon. Solange sie nicht zudringlich wurden, konnte es ihr egal sein.
Nicht etwa, dass sie damit angab, aber sie war nun mal ziemlich weit entwickelt, fast schon eine junge Dame, wie ihre Mutter bei den Nachbarn herumposaunte. Und wenn ihr die Jungs Komplimente machten, dann musste ja etwas dran sein. Besser, als durch den Kakao gezogen zu werden, ihre Banknachbarin konnte ein Lied davon singen.
Heute jedoch, im Visier des vermeintlichen Kontrolleurs, konnte von einem Flirt keine Rede sein. Denn zum ersten Mal, seit sie sich ihrer Attraktivität bewusst geworden war, kroch ein bisher unbekanntes Gefühl in ihr empor: Angst.
Lähmende, wie eine Droge wirkende Angst.
»Warum so schweigsam, oder haben Sie etwas dagegen, wenn man Ihnen Komplimente macht?«
Alles, was Recht war, aber die Siezerei brachte sie fast zur Weißglut. Sie war erst siebzehn, gerade mal halb so alt wie dieser Widerling in Uniform, unter Umständen nicht mal das. Junge Mädchen ansprechen, um sich an sie ranzumachen, das hatte sich der Schleimer so gedacht. Aber nicht mit ihr, und schon gar nicht mit dieser Masche.
Die Hände auf den Knien, stierte sie mit angehaltenem Atem ins Leere. Und siehe da, ihr Flehen wurde erhört. An der nächsten Station, von wo aus es nur noch drei Minuten bis nach Karlshorst waren, verlangsamte der Zug das Tempo und kam mit einem sanften Ruck zum Stehen. »Kommt drauf an, vom wem die Komplimente kommen.«
Wiewohl scharf im Ton, hörte der Mann über die Replik hinweg, trat einen Schritt näher und ließ den Blick über ihren drallen Körper wandern. Sie ließ es geschehen, was blieb ihr übrig. Hoffte inständig, jemand anderes würde in ihren Waggon steigen. Stierte weiter geradeaus, wie unter Hypnose, die Hände krampfhaft um die Kniekehlen gekrallt.
Zu früh gefreut.
Kein Mensch ließ sich in ihrem Abteil blicken.
Und kein Mensch, das wurde ihr blitzartig klar, würde sie vor dem, was ihr bevorstand, bewahren.
»Nur damit Sie Bescheid wissen, ich habe einen Freund.« Etwas Dümmeres, so die rückblickende Erkenntnis, hätte ihr nicht einfallen können. Kaum kam ihr der Satz über die Lippen, richtete sich der Mann zu voller Größe auf, ein Lächeln im Gesicht, bei dem sich alles in ihr zusammenkrampfte.
Und dann, als es längst zu spät war, ging ihr ein Licht auf. Sie kannte den Mann zwar nicht mit Namen, aber sie kannte die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Offiziell wurde nicht darüber gesprochen, und wer es dennoch tat, der riskierte Kopf und Kragen. Im Geheimen und hinter vorgehaltener Hand jedoch umso mehr, weshalb der Werwolf, wie man ihn beinahe ehrfürchtig nannte, zum allgegenwärtigen Schreckgespenst mutierte.
»Wir haben uns schon mal gesehen, erinnerst du dich nicht mehr?«
Diese Stimme, samtweich zwar, aber durchtränkt von abgrundtiefer Verachtung. Und obendrein voller Bosheit, an Perfidie nicht zu überbieten. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Oh doch, ich weiß es genau«, tönte es ihr aus dem Halbdunkel im Waggon entgegen, fast wie aus dem Jenseits, als sei dies eine Séance. »Vor zwei Jahren, im Kühlhaus, nur du und ich, wie für einander geschaffen.«
»Ich sagte es doch bereits, ich habe einen …«
»Der kann warten, bis ich mit dir fertig bin«, erwiderte der Unbekannte mit süßlicher Stimme und ließ die Hand auf der Lehne ihrer Sitzbank ruhen. »Weißt du, woran ich gerade gedacht habe? An damals, als wir beide uns kennengelernt haben, du erinnerst dich doch, oder? Was meinst du, wie wär’s, wenn wir ein bisschen in Erinnerungen schwelgen? Ich finde, das wäre doch die Idee, oder was sagt die junge Dame dazu?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Kann es sein, dass Sie mich mit jemandem verwechseln?«
»Ich dich verwechseln? Nie und nimmer«, fügte der Mann in süffisantem Ton hinzu, nahm ihren Zopf in die linke Hand und strich mit der Rechten darüber hinweg. »Ich irre mich nie, schönes Fräulein, aber das nur nebenbei.«
Und dann, im Begriff, sich loszureißen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dass er Handschuhe trug, hätte sie beinahe übersehen, doch als sie es bemerkte, fuhr ihr der Schreck durch sämtliche Glieder. Wiewohl in Leder gehüllt, fühlte sich die Hand wie die Tatze eines Raubtiers an, zudem deutlich größer als die Linke, die ihren Zopf mit eisernem Griff umklammerte. »Wenn ich es Ihnen doch sage, ich habe Sie noch nie …«
»Jetzt tu doch nicht so, als könntest du nicht bis drei zählen!«, fiel ihr der Unbekannte mit sich überschlagender Stimme ins Wort, die Tatze in Höhe ihrer Wange, die vor Scham beinahe zu glühen schien. »Ich weiß genau, was du vorhast – versuch bloß nicht, mich hinters Licht zu führen, so was wie damals passiert mir nicht noch mal!«
»Lassen Sie mich los, sonst schreie ich um Hilfe!«
»Nur zu, tu dir keinen Zwang an«, presste der Unbekannte zwischen zusammengepressten Fangzähnen hervor, ließ den Zopf unvermittelt los und griff in die Tasche seines Mantels. »Das Dumme ist, kein Mensch wird dich hören, also lass den Quatsch, damit machst du es nur noch schlimmer. In ein paar Minuten hast du es hinter dir, so oder so.«
Oder du, kommt ganz drauf an.
Drei Minuten bis zum nächsten Halt. Ganze drei Minuten musste sie noch durchhalten.
Leichter gesagt, als getan. In drei Minuten konnte viel passieren. Doch egal, was noch kam, sie musste es versuchen. Musste versuchen, dem Monstrum Paroli zu bieten. »So, meinen Sie.«
Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. »Jetzt hör mir mal gut zu, du dreckige kleine Nutte«, keuchte der Werwolf, einen Totschläger in der linken Hand, mit dem er ihr Kinn brutal in die Höhe drückte. »Und wenn du noch so viel Theater machst, noch mal falle ich nicht drauf rein. Mach dir darüber keine Illusionen. Mir kannst du nichts vormachen, egal welche Tricks du auf Lager hast.« Der Fiesling lachte triumphierend auf. »Ich schlage vor, wir drehen den Spieß mal um, denn wenn wir schon unter uns sind, kommen wir doch zur Sache. Die S-Bahn ist dafür wie geschaffen, meinst du nicht auch? Du bist ja so ernst, stimmt irgendwas nicht mit dir? Weißt du, ich habe mich so auf unser Wiedersehen gefreut, ich kann mein Glück immer noch nicht fassen.«
»So glauben Sie mir doch«, beteuerte sie mit flehentlichem Blick, und sei es nur, um Zeit zu gewinnen. »Wer auch immer Sie sind, ich kenne Sie nicht. Das ist ehrlich gemeint, ich lüge Sie nicht an. Wie käme ich denn dazu. Wir beide sind uns noch nie über den Weg gelaufen, sonst wüsste ich es noch.«
Einfach nur weiterreden, so lautete ihre Strategie. Jede Sekunde, die verstrich, brachte sie ihrem Ziel näher, und wenn der Zug erst anhielt, dann hatte sie das Schlimmste hinter sich.
Typisch für sie, so zu denken. Das hatte sie von ihrem Vater. So schlimm wie befürchtet würde es schon nicht werden, und wenn doch, ihr würde schon etwas einfallen. »Noch nie, ich lüge Sie nicht an! Weder vor zwei Jahren, noch bei einer Feier, noch auf der Straße oder in der S-Bahn oder …«
»Glaub bloß nicht, du könntest mich um