So pur, wie wir als Kind staunen konnten, so wird es als erwachsener Mensch wohl nie wieder werden. Nur noch selten erleben wir diesen Zustand vollständiger Versenkung. Es müssen schon erhabene Momente sein: ein Naturschauspiel, ein technisches Wunderwerk, ein überwältigendes Zeugnis für die kulturschaffende Kraft der Menschheit. Dann geschieht es einen Wimpernschlag lang doch: dass in uns nichts, aber auch gar nichts anderes ist als die Hingabe an das, was unsere Sinne wahrnehmen. Und da wir offenbar prinzipiell dazu in der Lage sind, müssten wir den Zugang zu der entsprechenden Ressource finden können. So scheint es doch durchaus möglich, sich auch bei kleineren Anlässen diesem inneren Zustand zu nähern – zum Beispiel in der Begegnung mit einem Menschen, der ins Coaching kommt.
Im Coachingdiskurs geistert allenthalben der Anspruch herum, man müsse im Umgang mit den Klienten eine »absichtslose« Haltung einnehmen. Dieser Begriff kann leicht irreführen. Es liegt ihm eine Verwechslung zugrunde: »Eine Absicht haben« muss nicht zwangsläufig gleichbedeutend sein mit »ein eigenes Ziel verfolgen« oder »eigene Interessen haben«. Das intentionale Handeln beginnt an einer ganz anderen Stelle: Sobald ich aktiv werde, etwas sage oder tue, habe ich zwangsläufig irgendeine Leitidee, die mich in der Wahl der Kommunikationsformen und Interventionen orientiert. Insofern habe ich durchaus eine »Absicht«. Und wenn es nur die dem Coaching ganz grundsätzlich innewohnende Absicht ist, Impulse zu setzen, die die Coachees beim Finden ihrer eigenen Lösung unterstützen. So ist es nicht nur unumgänglich, sondern auch notwendig, sich diese Metaabsicht im Bewusstsein zu halten.
Die einzigen Momente echter Absichtslosigkeit sind vielleicht die kurzen Momente des Staunens. Und damit ist auch etwas anderes als die systemisch-professionelle Grundhaltung gemeint, die beschriebenen Phänomene als anerkennenswerte Anpassungsleistungen zu verstehen. Das Staunen kommt sozusagen aus einem anderen inneren Raum.4 Es gibt vieles, worüber es sich im Coaching staunen lässt: zum Beispiel darüber, welch unerhörte Geschichten, Abenteuerromane und Psychothriller das Leben gerade für die Menschen geschrieben hat, die ganz und gar unscheinbar daherkommen. Ebenso in diesem Sinne erstaunlich ist immer wieder der opulente und nicht enden wollende Erfindungsreichtum, mit dem manch einer eine besonders lieb gewonnene Problemkonstruktion pflegt. Oder das Staunen gilt einfach der ungeheuren persönlichen Kraft, die jemand aufzubringen vermag, um in einer über die Maßen belastenden Situation zu verharren und zu überleben. Oder es ist die Geschwindigkeit, die Menschen entwickeln können, damit sie immer schneller sind als ihre eigene Angst. Oder ihre plötzlichen Entwicklungssprünge in vollkommen unvorhergesehene Richtungen. Die Liste der möglichen Anlässe zum Staunen lässt sich mühelos erweitern.
Momente des Staunens sind flüchtig und nicht planbar. Sie zeugen von einer tiefen Aufnahmebereitschaft. Wenn sie sich ergeben, bergen sie einen ganz speziellen Zauber, bieten eine unvergleichliche Möglichkeit, sich dem Gegenüber zu öffnen. Vor allem stützen sie auf die tiefste und nachhaltigste Weise eine wertungsfreie Haltung in der Begegnung. Denn wer staunt, kann nicht gleichzeitig ablehnen oder abwerten. Noch nicht einmal erklären und verstehen ist drin. In Momenten reinen Staunens sind wir im Wortsinn sprachlos und selbstvergessen.
Dies kann in unserer Arbeit eine sehr wertvolle Grundlage für alles darauf folgende Handeln sein: Ist er vorbei, der Moment des Staunens, folgt eine neugierige, vorsichtige Hinbewegung. So wie das Kleinkind in der U-Bahn nach langen Minuten stummen Staunens aus der Reglosigkeit »erwacht« und seine Hand z. B. nach den Dreadlocks seines Gegenübers ausstreckt. Eine behutsame und doch zielstrebige Geste. Der Anbeginn all dessen, was mit »Begegnung« gemeint ist. Alle Exploration beginnt mit dieser Urszene des Staunens. Aller Einsatz von Wissen und Können kommt danach.
1.3 Schweigen
Wer staunen kann, kann auch schweigen, so könnte man meinen. Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Denken wir einen Moment über das Schweigen im Verlauf einer Gesprächssituation nach. Je nach Kontext kann ein Schweigen die unterschiedlichsten Formen annehmen: Es kann sich um ein eisiges Schweigen handeln, ein einvernehmliches Schweigen, ein lauerndes, ein verbissenes, ein nachdenkliches Schweigen, ein Schweigen der Ratlosigkeit, der Trauer, der Scham. Immer aber ist es ein beredtes Schweigen. Schweigen ist Kommunikation. Es öffnet einen Raum, in dem in ganz besonderer Weise die Beziehung der beteiligten Personen zum Schwingen kommt. Erst wenn der Strom der Worte versiegt, wird spürbar, dass die Welt viel größer und mehrdeutiger ist, als die wohlgeformten Sätze zuvor glauben machten. Es entsteht eine Ahnung, dass vielleicht sogar alles bisher Gesagte den Blick nur vernebelt hat. So werden die entscheidenden Weichen für den Verlauf einer Begegnung nicht selten eher im Schweigen gestellt als im Reden.
Schweigen ist auch im Coaching die ungekrönte Königin der Interventionen. Und da es interaktionell hoch wirksam ist, erfordert es eine aufmerksame Beobachtung und einen bewussten Umgang – wie immer in erster Instanz mit sich selbst. Vor allem heißt Schweigen: Spannung halten können. Die Stille, die eintritt, wenn der Klang des Sprechens abreißt, löst Unbehagen aus. Wenn der stete Rhythmus von Rede und Replik innehält, kein Ton mehr im Raum ist, sich jäh die Leere einer Generalpause entfaltet, stellt sich im Handumdrehen ein Gefühl von Alarmiertheit und amorpher Ratlosigkeit ein. Das Bedürfnis, diesen Zustand schnellstmöglich zu beenden, springt automatisch an. Manchen wird gar heiß in einem solchen Moment, sie zeigen nervöse motorische Reaktionen oder lachen ein Übersprungslachen. Diese kleine Havarie in Gesprächssituationen kennen wir alle – nicht nur aus professionellen Kommunikationen.
Wenn es im Coaching geschieht, muss ich in der Lage sein, bewusst zu entscheiden, ob ich die entstandene Spannung eher auflösen oder halten will. Beides zu können ist wichtig. Spannung zu halten, ist dabei die anspruchsvollere Herausforderung. Sobald ich den unwillkürlichen Impuls habe, etwas zu sagen, um mich selbst von dem beschriebenen Unbehagen zu befreien, ist Gefahr im Verzug. Beliebt ist dabei zum Beispiel, eine gestellte Frage, die nicht gleich beantwortet wird, noch einmal zu präzisieren oder zu paraphrasieren, um die entstandene Stille zu überbrücken. Überhaupt sind weitere Erklärungen zum Gesagten ein unauffälliges Mittel zum Spannungsabbau, denn sie sind in der Sache immer gut begründbar. Wie viel »Schweigevermeidungstext« auf diese Weise produziert wird, kann man sich kaum vorstellen.
Man könnte von »Schweigekompetenz« sprechen und damit die Fähigkeit bezeichnen, Spannung in der Weise und in dem Maße halten zu können, die dem Prozess förderlich ist. Ohne Spannung entsteht keine Energie, keine Dringlichkeit. Ohne Spannung kann sich der Raum, den das Schweigen öffnet, nicht mit dem füllen, was gerade auftauchen will. Einfach ruhig und zugewandt warten, was passiert. Nichts tun, nichts sagen. Das ist eine Form der Aufmerksamkeit, deren Beherrschung schon eine gewisse Meisterschaft bedeuten kann.
1Was das Verstehen dieser unbewussten Vorgänge anbelangt, hat die Hirnforschung der jüngeren Zeit manch Neues beigetragen. Gerald Hüther (2005) lieferte eine sehr hand-habbare und plastische Aufbereitung der wichtigsten Forschungsergebnisse, die für die Praxis des Coachings und Selbstcoachings von Belang sind.
2Einige Schulen, die sich in besonderer Weise mit Körpersprache beschäftigen, fokussieren auf die Bemühung dahinterzukommen, was die Person »eigentlich« meint. Dazu werden Körpersignale unbewussten Botschaften zugeschrieben. Hier ist z. B. das NLP schon früh zu einem beachtlichen diagnostisch-methodischem Wissen vorgedrungen. Zu erwähnen sei hier auch das Körpersprache-Alphabet von Keith Johnstone (1993), das auf verblüffende Weise über die unbewussten Körperinszenierungen der Macht Auskunft gibt. Die Skepsis diesen Ansätzen gegenüber beruht darauf, dass sie ein recht starres Deutungsschema nahelegen.
3Bion (2009) nennt diesen Vorgang »Rêverie«, Träumerei. Ein zauberhafter Begriff. Er indiziert einen tagtraumähnlichen Zustand, der möglich macht, das Unbewusste der beiden Rollenträger in Resonanz zu bringen. Nota bene: »Rêverie« kann aber auch »Einbildung« heißen!