So ist es in diesem ehrwürdigen Hause vielleicht angebracht, in bewährter Manier zu fragen: Was würde sie über sich sagen, wenn sie sprechen könnte, die innere Haltung? Woran erkenne ich, dass sie da ist? Was müsste ich tun, um ihr nachhaltig die Tour zu vermasseln? Woran merken es andere, dass sie grad schwächelt? Was gälte es aufzutischen, wenn man sie als temporären Gast einladen wollte? Wie stylt sie sich zu welchen Anlässen? Wer müsste was tun, um sie in die Flucht zu schlagen? Und vor allem: Was fehlt, wenn sie nicht da ist?
Ist eine innere Haltung gar auf der gleichen Ebene zu verstehen wie eine Neurose oder Krankheit, die man ja bekanntlich in ähnlicher Weise »hat«? Zumindest kann man sagen, dass einen ein solches Geschehen nicht »überfällt« oder »heimsucht« wie eine Krankheit. Jedenfalls ist bislang noch kein solcher Fall schicksalhafter Heimsuchung durch eine innere Haltung ruchbar geworden.
Das, was wir so nennen, konzeptualisieren wir anders, prozesshafter: als etwas, das einem zuwächst, in das man hineinfindet. Man erarbeitet sie sich – vielleicht im Zuge einer Ausbildung –, man nimmt sie an, man formt sie, in ihr bilden sich Lebenserfahrung und persönliche Wertebindung ab. Sie ist das unsichtbare Kondensat des professionellen Könnens.
Instrumente und Techniken anzuwenden ist nicht schwer, das lernt sich schnell. Und da dies der sichtbare Teil im Handeln eines Coachs ist, verwechselt man oft die Kunst mit dem Handwerk. A fool with a tool is still a fool.
Wie aber finde ich denn in eine professionelle Coachinghaltung hinein? Wie steuere ich mich selbst dahingehend? Was daran hat mit dem systemischen Denken zu tun und was nicht? Oder auch: Gibt es ein systemisches Fühlen? Was und wie sollte ich empfinden, wahrnehmen und denken können? Wie kann sich meine Aufmerksamkeit gleichermaßen nach außen wie nach innen richten? Wie spreche ich mit mir, um mich immer wieder neu und mit aufrichtigem, wachem Interesse meinen wechselnden Coachees zu widmen? Wie justiere ich immer wieder neu, ob ich mein Gegenüber innerlich wirklich auf Augenhöhe habe? Wie schaffe ich aus mir heraus eine echte Begegnung, eine gedeihliche Koppelung mit der jeweiligen Person? Wie viel Distanz, wie viel Nähe ist gut? Wie gehe ich mit meinen eigenen Affekten um? Was mache ich ggf. mit Abneigung, Langeweile, Kontrollgelüsten, Angst, Abwertung, Unterlegenheitsgefühl, Verwirrung, Ratlosigkeit, Wertekonflikten oder Anziehung? Welche Verantwortung habe ich? Wie kann es mir gelingen, selber in jedem Moment in der Unmöglichkeit die Möglichkeit im Blick zu haben? Wie kann ich durch mein So-Sein dazu beitragen, dass mein Gegenüber berührt wird und in Kontakt mit sich selber kommt? Wie genau bildet sich die viel beschworene Neutralität als Grundhaltung innerlich ab, wie kann ich sie überprüfen, korrigieren? Wie halte ich bei all dem meine Denkweise elastisch und lebendig?
Der professionelle Umgang mit den hier aufgeworfenen Fragen ist zweifelsohne eine unverzichtbare Grundvoraussetzung für erfolgreiches Handeln. Nur findet sich dafür nicht so leicht eine Sprache. Für all das, was Fragen der inneren Verfasstheit angeht, ist die systemische Begrifflichkeit nicht wirklich gemacht, und das Angebot ist entsprechend mager. Da diese Brille also dem gewünschten Durchblick nicht immer hinlänglich zustattenkommt und die Vielbrillerei ja zu unseren ehrwürdigen Prinzipien gehört, so mag es erlaubt sein, in den folgenden Überlegungen bisweilen auch auf die alten, dicken, klobigen Brillen zurückzugreifen, durch die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon so manches im Berufsfeld der Beratung theoretisch betrachtet wurde. Auch ein paar aktuellere, leichtere und schickere Modelle werden zum Einsatz kommen. Die Erfahrung der Praxis lehrt, dass das situative Tragen all dieser Brillen eine signifikante Erhöhung der Handlungsoptionen bietet. Es gilt, sich aus dieser Kollektion mit Bedacht – je nach den aktuellen Sichtverhältnissen – zu bedienen, und sie einer systemischen Perspektive zur Verfügung zu stellen. Anders gesagt: Die Neubewertung und Inklusion von Theorien, Ansätzen und Werkgeheimnissen unterschiedlicher Professionsfelder kann für eine spannende Reise über viele Denkgrenzen hinweg sorgen.
Diese Reise – oder sagen wir: diese eine von vielen möglichen anderen Reisen – soll im vorliegenden Buch angetreten werden, mit all den erwähnten Brillen im Gepäck.
Stellen Sie sich sozusagen auf eine kleine eklektische Landpartie ein, die zu ausgewählten Orten führt, an denen sich die Frage der inneren Haltung immer wieder neu aktualisiert – gleichermaßen als Problem wie als Lösung. Immer in der Hoffnung, dass sich auf diese Weise unversehens das Rätsel um den berühmten Hausgeist erhellt. Reisen bildet ja, wie man weiß. Der Fairness halber möchte ich für alle dem Unterfangen Zugeneigten hier noch schnell zu bedenken geben, dass die Reiseleitung keinerlei Anspruch auf flächendeckende Landeskenntnis erhebt. Nach aufregenden und weitschweifenden Expeditionen in die verzweigten Gefilde der theorieproduzierenden Fachwelt schärft sich der Blick für die einfachen Dinge, wächst die Achtung vor den vertrauten, unscheinbaren Orten der heimatlichen Umgebung. Die Einsicht, dass viele Schätze schon immer direkt vor der eigenen Nase lagen, hatte zugegebenermaßen Einfluss auf die Reiseroute. Für veritable Abenteurer ist dieser Ausflug also vielleicht nicht das Richtige, eher schon für interessierte Flaneure und notorisch Neugierige.
Beim Schreiben habe ich mir junge Kolleginnen und Kollegen vorgestellt, für die die Tour interessant sein könnte – vielleicht besonders solche, deren systemische Ausbildung noch ganz frisch ist. Aber auch Resonanz bei den alten Hasen im Kollegenkreis ist denkbar, zumal bei jenen, die auf einer ähnlichen Suche sind.
Die mit den Kapiteln vorgegebene Route ist nicht zwingend. Wie bei den Routenvorschlägen eines Reiseführers ist die Abfolge und Komposition der Stationen zwar mit Bedacht gewählt, man kann bei gutem Orientierungssinn den Weg aber auch anders herum gehen, Teilstrecken auswählen oder nur einzelne Stationen besuchen. So können Sie in diesem Buch ganz nach Gusto herumspazieren.
Alles in allem ist das Buch so etwas wie ein Brevier der professionellen Achtsamkeit. Als solches taugt es hoffentlich dazu, dass Sie es hin und wieder aufklappen, um einen Gedanken herauswehen zu lassen, der sich in eine Inspiration oder eine Erinnerung an einen Vorsatz verwandelt.
1Aufmerksamkeit
Beginnen wir also die Reise und sammeln uns am Ausgangspunkt. Alles Gesagte wird von Beobachtenden gesagt. So, leicht abgewandelt, lautet der systemische Hauptsatz. Das kann doch in einer ersten, ganz einfachen Konsequenz nur bedeuten, dass die Beobachtung, die die Weichen für jede Interaktion stellt, unter Beobachtung gehört. Erste Bürgerpflicht für Coachs ist es demnach, die eigene Aufmerksamkeit zu kultivieren und zu professionalisieren. Lange, bevor ich überhaupt handle – sei es sprachlich, sei es nichtsprachlich –, hat sich meine Aufmerksamkeit schon einen Fokus gesucht, eine Perspektive auf das zu beobachtende Geschehen. Was ich in den Blick nehme und was nicht, mit welchen eigenen Erfahrungen ich Wahrgenommenes auflade und in welche innere Schublade es dadurch gerät, das alles sind in der Regel Abläufe in meinem geistig-seelischen System, die sekundenschnell und auch weitgehend unwillkürlich vonstattengehen.1 Und weil das so ist, bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, als zum einen die eigene Beobachtung zu beobachten, um gegebenenfalls Einfluss nehmen zu können, und zum anderen die Aufmerksamkeit für alles, was im Außen passiert, so weit wie nur möglich aufzuspannen. Energy flows where attention goes. Es gilt, dafür zu sorgen, so aufnahmefähig und aufnahmebereit zu sein, dass wir immer über mehrere Möglichkeiten des Verstehens verfügen. Je mehr, desto besser. Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß an innerer Arbeit.
1.1 Zuhören
Ohne die Fähigkeit zuzuhören geht in der Kommunikation gar nichts. Im Coaching noch weniger. Zuhören ist so etwas wie die Grundstellung im Tanz mit den Coachees. Aber schon hier können wir unversehens stolpern. Gäbe es eine Methode, die Gedanken und Gefühle eines Coachs während des stillen Zuhörens in einer beliebigen Coachingsitzung sichtbar zu machen, es ließe sich im Handumdrehen eine Aussage über die Qualität des Coachings machen. Da hat sie noch gar nichts