... Verzeih’ mir, Bester. Das Herz wurd’ mir schwer. Besser kein Brief als einer mit diesem Ende. Ich nehme das Blatt wieder auf, das ich gestern zur Seite legte. Soll mich denn der Mut verlassen, bevor er überhaupt gefordert ward? Bin ich so schwach, wie ich es meine? Das darf nicht sein, weil ... Hans, mein Hans, sprich ein Gebet für meine arme Seele. Ich bete nicht.
Lass uns vom Lachen wieder sprechen. Der Gesslov kann’s. So heißt der Kerl. Professor seines Standes. Was heißt’s! Er ist ein Mensch. Damit genügt’s. Und auch für heut’ die frohe Kunde.
Brief 3
War ich beim letzten Mal zu kurz? Ich denk’s. Du könntest fragen: Ja, gewiss, der Mensch heißt Gesslov, guter Eindruck, hoher Herr und so fort, doch sprich! Was ist sein Zweck mit dir? Wo will er hin? ... Du lieber Himmel, Hans. Wenn ich das wüsste! Doch beruhige dich, ich bitte von Herzen. Ich habe mich auf diese Reise eingelassen, ohne zu wissen, wo sie endet, und das betrifft nicht nur die Route. Ich habe meine Lieben und dich verlassen, ohne euch meines Dankes für eure Liebe und Fürsorge genügend versichert zu haben. Meine wirtschaftliche Existenz habe ich zerstört, musste sie zerstören, damit ich innerlich bereit wurde, mich von äußeren Miseren zu scheiden. Und nun, nach diesen Qualen und Mühen, soll ich einen Menschen fürchten, der mir nichts mehr nehmen kann, weil bereits ich selbst mich allem entledigte? Nein. Er kann mir nichts mehr nehmen – aber ... vielleicht ... kann er mir geben!?
Weshalb ich hierhergekommen bin, das weiß ich. Das stimmt nicht ganz. Kann Hoffnung Wissen sein? Erwartungen sind viele in meiner Brust. Unbekannten Verhältnissen bin ich unterworfen. Und doch! Kann ich die eig’nen Kräfte nicht bezwingen, die gleich eines Sturmes in mir wüten, so sollen mich auch derer fremde nicht stärker verwirren, als es die vertrauten bis zum heutigen Tage tun. Lasse mich ins Detail gehen, dir kann ich es anvertrauen, du kennst mich gut. Warum ein Mensch ist, wie er ist, das ist eine Sache. Es zu wissen oder ahnen, eine andere. Letztendlich eine Rechnung, die jeder für sich selbst aufzustellen hat, und ob die dann aufgeht, auch das ist schon wieder eine eigene Sache. Ich denke: Von Geburt an (sogar vorher) ist im Menschen etwas eingebaut, für das er selbst am wenigsten kann, und das er anzunehmen hat, da es ihm wie ein Geschenk vermacht wurde – und Geschenke muss man ehren. Aber es ist mit den Geschenken wie mit dem Leben. Was den einen erfreut, ist dem anderen wenig bedeutend, was mancher sich wünscht, fällt einem anderen zu, welcher vielleicht keinen Wert darauf bezieht, und das vom Geber so akkurat hergerichtete Präsent landet nutzlos in irgendeiner verstaubten Ecke. Wohl dem aber, der Geschenke zu schätzen weiß. Er wird sie mit Liebe betrachten und ihnen einen bevorzugten Platz in seinem Hausstand und Herzen zuweisen. Auch würd’ er über irgendwelchen Makel des Objekts großzügig hinwegseh’n, erblickte er doch hinter der Fassade der toten Materie das pochende Herz des Menschen, der ihm das Kleinod in fiebriger Erregung und Vorfreude überreichte. Das ist, was ich meine, Lieber: Vielleicht liegt auch für mich noch irgendwo ein Geschenk parat, in irgendeinem versteckten Winkel, dem Blicke verborgen und nur darauf wartend, verpackt, mit hübschen Schleifen versehen und ausgehändigt zu werden. Es ist müßig, auch das steht mir vor Augen, auf Geschenke zu warten, die nie kommen mögen, und darüber sich einer Untätigkeit anheimzugeben, die nichts bewirken kann, nichts ändern, da sie nur harrt, wo sie doch walten sollte. Trotzdem! Da steht über allem die Hoffnung. Und mit der ist’s wohl ein komisch’ Ding. Zeige du mir den Menschen, der bei aller Not, allen Widrigkeiten, Krankheit und Leid nicht diesen Urkeim der Seele in sich trägt, diesen hegt und pflegt, auf dass er wachsen und gedeihen möge. Und das ist wohl gewiss: Je größer die Verzweiflung, desto stärker die Hoffnung. Erklär’ du mir, wie das funktioniert.
Ich verliere mich in Deklamationen. Kommen wir wieder zu Gesslov. Er verspricht mir nichts. Pflanzt keine Illusion in das geschund’ne Hirn. Nimmt mich, wie ich bin, und das ist wahr: dass der Unzulänglichkeiten zwischen allen, die von einem Weibe geboren wurden, weniger wären, würden die Menschen einander nehmen, wie sie nun einmal sind.
Höre denn, was sich bei meinem ersten intensiven, wenn auch nicht langen Gespräch mit Gesslov zugetragen hat: Ich wurde zur Vormittagszeit in den Salon gebeten, wo er bereits zugegen war (und niemand sonst), und herzlich von ihm bewillkommnet. Nach Floskeln über Nachtruhe und Wetter griff er das Wort auf: Mein lieber Wantlek. Dass Sie vor mir sitzen, heißt: Sie haben Mut! Eine Eigenschaft des Charakters, die gar nicht genug hervorgehoben werden kann. Nein, nein, wehren Sie nicht ab. Ich sehe, was ich sehe. Insgeheim pflichtete ich ihm keineswegs bei, bestenfalls unter der Prämisse, dass die Wiege des Mutes die Angst ist. Es gehört viel dazu, fuhr er fort, hinter den Horizont blicken zu wollen. Nun denn, wir müssen tun, was zu tun ist. Jeder trägt auf seinen Schultern seine eigene Last. Und wenn ein Stück des Wegs sich jemand finden sollte, der uns um nur einen Teil der Last und auch nur für eine bestimmte Zeit erleichtert, so sind wir allemal zufrieden. Doch ist zu schauen, ob die Last gänzlich abzuwerfen sein sollte. All dies war Balsam für mein Gemüt. Gespannt lauschte ich seinen Ausführungen, da war’s bereits an mir. Wollen Sie mir nicht erzählen, fragte er, wie’s denn vonstattenging, dass wir so nett beisammensitzen? Zwar fiel mir auf, dass er von sich noch nichts erzählte, doch schrieb ich’s keiner fehlenden Höflichkeit oder Unachtsamkeit zu, weit gefehlt, vielmehr einer Rücksichtnahme, die er seinem Gast erwies; er hielt sich wohl nur zurück.
Also berichtete ich ihm in geraffter Form von der Kenntnisnahme des Zeitungsinserates, dem Weggang aus dem Heimatdorf, der Aufnahme als einziger Insasse in die bereitstehende Kutsche und der mehrtägigen und nicht endenwollenden Fahrt in selbiger. Wenn ich schon nicht froh sei, den heimatlichen Gefilden entrissen zu sein, so wäre ich es doch, was die Beendigung dieser Höllenfahrt beträfe. Ich schwieg. Er lachte. Das glaub’ ich wohl, sprach er. Doch jede Reise geht zu Ende, so auch diese. Sie erzählten mir noch nichts von dem, was Sie zurückließen, wo doch jede Kreatur an jemandem oder etwas hängt. Wie ist’s in Ihrem Fall, Herr Wantlek? Bei mir, nahm ich die Rede wieder auf, wird’s sein wie bei den meisten ander’n auch. Der Unterschied ist nur ... Wir wurden durch ein Klopfen an der Tür gestört. Herein, rief Gesslov und hob beschwichtigend eine Hand. Ein Diener trat ein. Die Herren wollen verzeihen. Herr Professor, das Fräulein Tine bittet darum, empfangen zu werden. Die Chose scheint zu pressieren. Gut, gut, sagte Gesslov, ich komme sofort. Der Diener ging. Nichts für ungut, Herr Wantlek. Lassen Sie uns das Gespräch später weiterführen, vielleicht noch heute. Ich glaube, das Anliegen des Mädchens zu kennen und sollte mich direkt darum kümmern. Er sah mich bittend an und mir war’s nicht unangenehm, dass sich meine Beichte verschieben sollte. Das will ich meinen, rief ich. Schöne Frauenzimmer lässt man nicht warten. Als er mir beim Verlassen des Salons nochmals die Hand herzlich drückte, blitzten seine Augen. Wohl gesprochen, Wantlek!
Es hat sich aber bis heute noch nichts mit der Fortführung der Unterredung getan, und so unterzeichne ich denn dieses Blatt.
Brief 4
Den Menschen nenn’ ich glücklich, der beim Stuhlgang pfeift! Wie ich auf diese Philosophie gestoßen bin? Lausche! Ich tat mich auf zu meinem ersten Spaziergang, nicht ohne zuvor einen Bedienten, der mir zwischenzeitlich recht vertraut geworden ist, zu befragen, ob dies einzurichten sei. Freilich, der Herr! Es gibt der schönen Pfade genug in dieser Gegend. Und er schickte mich in eine Richtung, nachrufend, dass in Kürze bald der Mittagstisch bereitet sei. An dieser Stelle fügt sich ein, dass wohl alle sieben Tage lang (das Zeitgefühl geht mir verloren und immer weiter entferne ich mich von Tag und Stund’) ein Fuhrwerk, gelenkt von einem stämmigen Burschen und gezogen von zwei ebensolchen Gäulen, den Weg in unser’n Hof findet. Kistenwerk wird dann entladen. Fässer und Körbe auch, und soweit ich’s sehen kann, ist’s Proviant. Also lebe der Mensch so abgeschieden, wie er wolle, er will und muss sich nähren. Dabei denke ich an die reifenden Felder. Sollen deren Schätze denn verfaulen? Noch sah ich niemand sie besuchen. Doch weiter nun. Ich ging und ging und lauschte mancher Vogelstimme und ergötzte mich an Natur und strahlender Sonne und dachte nichts dabei, da raschelte es hinter einem Gebüsch und ich erschrak. Das ist immer ein befremdendes Gefühl, aus innerer Ruhe gerissen zu werden. Gerade noch eins mit Natur und Seele, dann ruckartig zurückgezogen in die reale Welt, das tut doch weh.