Das Entstehen von Tierstraßen, insbesondere von Ameisenpfaden, hat sich auch als ein außerordentlich faszinierendes Thema entwickelt. Durch kollektives Vorgehen können Ameisen schnell und genau den kürzesten Weg zwischen Nest und Futterquelle bestimmen. Die von ihnen benutzten Methoden kann man heute mit Robotern simulieren, was dazu geführt hat, dass ähnliche Algorithmen jetzt auch für Logistikprobleme im Transportwesen benutzt werden. Der kritische Punkt dabei ist, dass man verschiedene Individuen Versuche ausführen lässt und der Schwarm dann die effektivste Lösung übernimmt. So ein Schema funktioniert nur durch das Zusammenspiel vieler Einzelner und benötigt keinen Leiter.
Die Wege von Tieren auf der Erde kann man recht einfach untersuchen. Bei Vogelflug wird das Problem komplizierter, und im Hinblick auf die halbjährlichen Vogelzüge über riesige Entfernungen ist es in der Tat ein Problem; das Gleiche gilt für Fischwanderungen. Hier müssen wir uns nicht nur fragen, wie über solche Entfernungen eine Orientierung möglich wird. Zu dem kommt die Frage, wie der Energieverbrauch bei solchen Leistungen minimiert wird und wie diese Leistungen überhaupt erbracht werden können. Erst seit Kurzem hat die Verfügbarkeit ultraleichter Fluggeräte wie auch die von miniaturisierten elektronischen Sendern es ermöglicht, Vögel in ihren Langstreckenwanderungen zu begleiten und ihr Verhalten zu messen. Eine britisch-österreichische Forschergruppe hat ganz kürzlich bahnbrechende Ergebnisse hierzu veröffentlicht: Sie zeigen, dass die Vögel in der Tat optimale aerodynamische Flugformationen benutzen.
Um die Navigations- und Orientierungsleistungen von Vögeln zu verstehen, hat man in den letzten Jahren verschiedene „Versetzungsexperimente“ durchgeführt, also mit GPS-Sendern ausgestattete Vögel um größere Entfernungen versetzt, um zu sehen, wie die Tiere sich unter solchen Bedingungen wieder zurechtfinden. Man hat dabei verschiedene Referenzgrößen untersucht: Sonnenstand, Sternbewegung, das Magnetfeld der Erde. Trotzdem ist bis heute nicht so recht klar, wie ein aus England in einem geschlossenen Kasten per Flugzeug nach Amerika transportierter Seevogel es fertig bringt, in zwölf Tagen wieder zuhause zu sein ...
In den letzten Kapiteln des Buches betrachten wir Insektenstaaten. Es zeigt sich, dass viele „Errungenschaften“ der menschlichen Gesellschaft tatsächlich auch in Insektengemeinschaften vorhanden sind, die aus weitaus mehr Mitgliedern bestehen als unsere. In diesen Gemeinschaften gibt es Landwirtschaft, Viehzucht, Baukonstruktionen und spezialisierte Armeen. Und es gibt auch wiederum Gemeinschaften, die viele der negativen Seiten der menschlichen teilen: Sie greifen andere an, töten sie, versklaven sie. Im Gegensatz aber zur menschlichen Welt finden all diese Aktivitäten in den Insektenstaaten kollektiv, selbstorganisiert statt. Es gibt nie einen Befehlshaber oder Anführer.
Die Schwarmbildung bei sozialen Insekten hat im Laufe der Evolution dazu geführt, dass die Individuen, aus denen die Schwärme bestehen, grundsätzlich verändert wurden. Ein Vogelschwarm oder eine Antilopenherde besteht immer noch aus Einzeltieren, die ein eigenständiges Leben führen: Es gibt Männchen und Weibchen, die sich ernähren, sich paaren und Junge aufziehen. Im Gegensatz dazu bilden die Mitglieder von Insektenstaaten wohldefinierte Kasten mit wohl definierten, speziellen Funktionen. Es gibt nur eine Königin, die alle Jungen zur Welt bringt, mithilfe von Drohnen, die nur eine Funktion haben: sich mit der Königin zu paaren; danach sterben sie. Sie können sich nicht einmal selbst ernähren – sterile weibliche Arbeitertiere füttern sie. Die Grundregel der Darwin’schen Evolutionstheorie, dass die Tüchtigsten überleben, scheint aufgehoben. Es ist egal, wie gut die weiblichen Arbeiter ihre jeweiligen Funktionen erfüllen – Nestbau, Nahrungsbeschaffung, Larvenversorgung – sie werden nie Kinder haben, die ihre Fähigkeiten erben. Und weder die Königin noch die Drohnen haben solche Fähigkeiten je zeigen müssen. Wie kann so eine Schwarmstruktur entstehen? Die Antwort, wie wir sehen werden, liegt in der abgeänderten genetischen Erbstruktur der Schwarmmitglieder.
Wie wir sehen, hat sich die Untersuchung der Struktur und Funktionsweise von Schwärmen zu einem außerordentlich interessanten Forschungsgebiet entwickelt; ein Gebiet, in dem sich Biologie, Physik und Mathematik treffen, um uns ein Verständnis von Vorgängen zu liefern, die auf den ersten Blick wahrhaft wundersam erscheinen. Ich hoffe, dass dies Gefühl des Wundersamen auch dann noch bestehen bleibt, wenn wir etwas mehr verstehen wie die Vorgänge zustande kommen.
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Die achte Plage
So will ich Heuschrecken kommen lassen an allen Orten, dass sie das Land bedecken und alles fressen.
2. Mose 10,4/5
Aus der Wüste sind schon viele Völker hervorgegangen; zahlenmäßig jedoch können es die Heuschrecken wohl mit allen aufnehmen. Seit Menschengedenken haben Milliarden mit ihren Schwärmen den Himmel verdunkelt, so waren sie bereits die achte biblische Plage in Ägypten. Der Herr sprach zu Mose, recke deine Hand über Ägypten, dass die Heuschrecken kommen sollen und fressen alles Kraut im Lande, und des Morgens führte der Ostwind die Heuschrecken her. Und sie kamen über ganz Ägypten, und ließen sich nieder an allen Orten, so sehr viel, dass zuvor dergleichen noch nie gewesen ist noch hinfort sein wird. Denn sie bedeckten das Land und verfinsterten es. Und sie fraßen alles Kraut im Lande auf und alle Früchte auf den Bäumen, und ließen nichts Grünes übrig an den Bäumen und am Kraut auf dem Felde in ganz Ägypten.
Es gibt wohl kaum Zeitzeugen von diesem Ereignis – wohl aber von späteren und ansonsten ähnlichen Vorkommnissen. Eine der größten dokumentierten Heuschreckeninvasionen fand gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika statt. Damals überfielen riesige Schwärme der sogenannten Rocky-Mountain-Heuschrecke (Abb. 2.1) die Präriestaaten der USA, und über diesen Vorfall wurde sehr ausführlich berichtet, unter anderem auch von den dortigen Landwirtschaftsbehörden. Danach hat im Jahr 1875 ein Schwarm von 12,5 Billionen dieser Heuschrecken den Mittleren Westen heimgesucht, die größte bisher dokumentierte Ansammlung von Tieren. Die Anzahl der Heuschrecken in diesem einen Schwarm ergibt das etwa Zweitausendfache der gesamten heutigen menschlichen Weltbevölkerung. Der Schwarm hatte eine Länge von über 2000 und eine Breite von 175 km. Die Tiere zogen durch das Land wie ein Schneesturm und fraßen alles fressbare, einschließlich Decken und Bekleidung.
Die amerikanische Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder, auch in Deutschland als Kinderbuchautorin bekannt (Unsere kleine Farm), war Zeugin des Heuschreckeneinfalls auf ihrer Farm und schrieb: Die Wolke hagelte Heuschrecken. Die Wolke bestand aus Heuschrecken. Ihre Körper verdeckten die Sonne und brachten uns Dunkelheit. Ihre dünnen, langen Flügel funkelten und glitzerten. Das schnarrende Schwirren dieser Flügel erfüllte die ganze Luft, und die Tiere prallten auf die Erde und auf das
Abb. 2.1 Rocky-Mountain-Heuschrecke (Melanoplus spretus).
Haus mit dem Getöse eines Hagelsturms. Innerhalb von Stunden fraßen sie alles auf, was die Farmer besaßen. Auch Laura Ingalls Wilders Familie verlor alles, und ihr Vater musste anschließend mehrere Jahre lang auf Farmen arbeiten, die außerhalb des Heuschreckendurchzugs lagen.
Milliarden Heuschrecken haben seitdem im Laufe der Zeit immer wieder die Felder aller Kontinente leer gefressen; seit 2000 hat es in Argentinien, Brasilien, Israel und der Sahelzone Afrikas riesige Invasionen gegeben. Deshalb müssen jedes Jahr viele