Gedruckt auf säurefreiem Papier.
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Die Heuschrecken haben keinen König, und doch ziehen sie allesamt aus in geordneten Scharen.
Salomo Sprüche 30:27; Elberfelder Bibel 1905
Vorwort
In den letzten 50 Jahren ist ein neues Gebiet wissenschaftlicher Forschung entstanden: die Untersuchung von Schwarmstruktur und Schwarmverhalten. Die Grundfrage, die zu diesen Untersuchungen geführt hat, ist unmittelbar verständlich: Wie ist es möglich, dass eine Menge einfacher Individuen, die jeweils nur mit ihren nächsten Nachbarn in Wechselwirkung stehen, das grandiose, kollektive Verhalten riesiger Schwärme erzeugen? Vogelschwärme führen komplexe Manöver aus über uns am Himmel, Fische vollbringen Ähnliches in den Tiefen der See. Im asiatischen Dschungel zeigen Leuchtkäfer Lichtvorführungen, in denen Tausende von Käfern in perfekter, synchroner Harmonie strahlen. Diese und ähnliche Vorgänge haben dazu geführt, dass Mathematiker und Physiker sich mit Kollegen der Biologie zusammengefunden haben, um die dem Schwarmverhalten zugrunde liegende Struktur zu erforschen. Man hat festgestellt, dass diese Struktur recht universell ist und sehr ähnlich der, die man in der Physik vieler wechselwirkender Teilchen findet. Das Entstehen und die Struktur eines Vogelschwarms entsprechen in vieler Hinsicht der Magnetisierung von Eisen, bei der ganz plötzlich die Spins der meisten Atome in die gleiche Richtung weisen. Die Synchronisierung der Leuchtkäferstrahlung wiederum beruht auf Mechanismen, die der Lichtemission eines Lasers recht ähnlich sind.
Zum anderen haben Ameisen, Bienen und weitere Staaten bildende Insekten außerordentlich effiziente Methoden zur Lösung gewisser Probleme entwickelt, wie etwa zur Bestimmung des kürzesten Weges zwischen zwei Punkten – Methoden, die seit einiger Zeit auch Eingang in die menschliche Logistik gefunden haben. Dazu kommt ferner, dass die Schwarmstruktur dem darwinschen Begriff survival of the fittest eine neue Bedeutung gegeben hat. Hier hat die Evolution zu einer weitgehenden Umwandlung der einzelnen Tiere geführt: Sie sind keine autonomen Wesen mehr, sondern jetzt Teile eines Superorganismus, mit speziellen Funktionen und speziellen Nutzen. Eine unabhängige Existenz mag schwierig werden für Mitglieder einer Herde von Säugetieren oder eines Vogelschwarms; für die Mitglieder eines Insektenstaates aber ist sie vollständig unmöglich. Hier sind kollektive Leistungen nicht nur für die Existenz des Staates notwendig, sondern auch für die des jeweiligen Einzelwesens.
Wie sieht es aus bei menschlichen Gemeinschaften? Obwohl das Verhalten hier sehr viel komplexer ist, gibt es doch auch Aspekte, die offensichtlich das Ergebnis von Selbstorganisation sind. Insbesondere hat die Evolution zum Entstehen der menschlichen Sprache geführt als ein Werkzeug für die Beschreibung sowohl konkreter wie auch abstrakter Begriffe. Es ist wohl dieses Werkzeug, dass die Planung und Organisation möglich gemacht hat, die letztendlich zur menschlichen Herrschaft über die gesamte Erde führte.
Das Ziel dieses Buches ist es, die verschiedenen Formen des Schwarmverhaltens von Tiergemeinschaften zu beschreiben und diesen dann die entsprechenden Strukturen in Physik und Informatik gegenüberzustellen. Es richtet sich an eine allgemeine Leserschaft und wird daher nur auf wenig und recht einfache Mathematik zurückgreifen; auch die angeführte Physik und Biologie werden auf einem für Nichtspezialisten verständlichen Niveau gehalten. Für an mehr Einzelheiten interessierte Leser werden zwei Bereiche, der Übergang von komplexem Verhalten zum Chaos und die Orientierung und Navigation von Vögeln, in speziellen Anhängen etwas detaillierter behandelt und ansonsten auf eine recht umfangreiches Literaturverzeichnis verwiesen. Eine etwas komprimiertere Fassung dieses Buches ist vor Kurzem unter dem Titel The Rules of the Flock bei Oxford University Press erschienen.
Wir Menschen erfahren ein Gefühl tiefen Wunders, wenn wir einen wirbelnden Vogelschwarm am Himmel beobachten oder einen schimmernden Schwarm von Fischen im Meer. Wir stehen voller Staunen vor den Leistungen von Ameisenstaaten oder Bienenvölkern. Dieses Buch möchte zeigen, dass solche Gefühle noch verstärkt werden, wenn wir verstehen, wie die beeindruckenden Leistungen zustande kommen, wenn wir sehen, dass sie in der Tat auf ganz allgemeinen Grundlagen beruhen, die sowohl in der belebten wie auch in der unbelebten Welt gültig sind.
Ich danke Irene Giardina für Einzelheiten über das STARFLAG-Projekt, Johannes Fritz für die schönen Fotos vom Waldrapp-Projekt und Susette von Reder für ihre Unterstützung bei der Ausarbeitung des Manuskripts.
Bielefeld, Dezember 2019
Helmut Satz
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Einleitung
Moses führte das Volk Israel aus Ägypten ins gelobte Land. Caesars Legionen eroberten Große Teile von Europa. Dschingis Khans Horden bedrohten das Abendland. Napoleons Truppen standen vor Moskau. Die Geschichte der Menschheit geht meist aus von vielen, die von einigen wenigen angeführt oder geleitet wurden. Das hat auch unsere Vorstellung der Vorgänge in der Natur beeinflusst. Wenn viele „unwichtige“ Einzelne etwas zusammen durchführen, etwas gemeinsam erzeugen, dann suchen wir irgendwo nach einem König, einem Anführer, einem Befehlshaber. In der Natur aber ist das oft nicht so: Heuschrecken, Ameisen, Fische, Stare, Antilopenherden und viele andere Tiere mehr, sie alle haben keinen König, keinen Herrscher, keinen Organisator und doch haben sie alle funktionierende Gemeinschaften.
Das Ganze ist von vornherein mehr als die Summe seiner Teile – das weiß man schon sehr lange, mindestens seit Aristoteles. Und dass man aus vielen Einzelteilen ein Großes Ganzes bilden kann, erscheint auch natürlich. Aber dass viele gleiche Einzelteile sich von sich aus, unter eigener Kraft sozusagen, zu einem mit neuen, ganz eigenen Eigenschaften ausgestatteten Gesamtgebilde zusammenfinden können, ist eine noch recht neue Erkenntnis in der Naturwissenschaft. Man spricht dabei von Emergenz und Selbstorganisation. Bis dahin recht einzelgängerische Heuschrecken bilden plötzlich, aus heiterem Himmel, Riesenschwärme, die eben diesen Himmel verdunkeln und alles Pflanzliche auf ihrem Wege auffressen. Tausende von Leuchtkäfern, über Große Gebiete verteilt, senden absolut gleichzeitig periodische Lichtsignale, ohne irgendeinen Dirigenten. Ameisen erstellen komplizierte Straßennetze, ohne jeden Bauleiter oder Bauplan. Vögel und Fische bilden umfangreiche und aus vielen Tieren bestehende dreidimensionale Gebilde, die sich ausdehnen, zusammenziehen und komplizierte Manöver im Raum vollbringen – auch wieder ohne irgendeinen Regisseur oder Choreografen. Bei all diesen Vorgängen nützt es zudem wenig, ein einzelnes Tier so genau wie möglich zu untersuchen und all seine Funktionen zu bestimmen – daraus kann man das kollektive Verhalten in keiner Weise ableiten oder vorhersagen. Erst die Verbindung der vielen erzeugt die gänzlich unerwarteten Phänomene, die Vielzahl gewinnt eine eigene Existenz, eigene Eigenschaften.
Es hat sowohl Biologen als auch Physiker einigermaßen überrascht, dass Phänomene dieser Art in beiden Bereichen auftreten und dass Selbstorganisation ein sehr viel allgemeinerer Begriff ist. Der Nobelpreisträger Ilya Prigogine und sein Kollege Gregoire Nicolis in Brüssel schrieben 1977, dass „Komplexität nicht mehr auf die Biologie beschränkt sei, sondern auch in die physikalischen Wissenschaften eindringen würde“. Zur gleichen Zeit – und auch in Brüssel – führte ihr Kollege Jean-Louis Deneubourg als Erster mathematische Modelle zur Beschreibung von Ameisenstaaten ein: Die Mathematik drang damit in die Biologie ein. Die Untersuchung von Selbstorganisation als allgemeines, wissenschaftliches Forschungsthema ist noch keine 50 Jahre alt und hat eigentlich erst begonnen, als man mathematische Modelle konstruierte, in denen sich viele einfache, gleichartige „Objekte“ nach sehr simplen Regeln bewegten. Und diese Roboter zeigten dann recht genau das Verhalten, das in Ansammlungen vieler Tiere beobachtet worden war.
Noch vor 100 Jahren gab es Vorschläge, dass Vogelschwärme durch Telepathie kommunizierten oder dass das gleichzeitige Blinken von Leuchtkäferscharen auf das Blinken der Augen