Willis Welt. Birte Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birte Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783772543722
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sie mir morgens, dass sie sich nicht die Schuhe anziehen kann, weil sie gerade endlich mal eine Pause macht, das sei ja wohl ihr gutes Recht. Und wenn ich ihr dann lang und breit erläutere, dass sie jetzt aber in den Kindergarten gehen soll, weil Mama arbeiten muss, um Geld zu verdienen für die ganzen Dinge, die wir immer kaufen müssen (wobei es sie nicht weiter zu interessieren scheint, dass wir sonst kein Essen hätten, aber sehr wohl beeindruckt, dass man dann auch keine Geburtstagsgeschenke bekommen würde), und sie am Ende meines Monologes sagt: «Danke für das Gespräch, Mama!», dann weiß ich: Genau diese Tochter hatte uns noch gefehlt!

      Und so wundere ich mich gar nicht erst, wenn ich den Klodeckel öffne und die Toilette bis oben hin mit Quietscheentchen gefüllt ist. Jedem meiner Hausgenossen traue ich zu, für die Enten im Klo verantwortlich zu sein. Ich frage nicht einmal, wer es war, sondern mache den Deckel schnell wieder zu und freue mich lediglich, dass anscheinend noch keiner draufgemacht hat.

      Ich möchte gerne denken, dass wir eine ganz normale Familie sind, mit Höhen und Tiefen, nur dass unsere Tiefen mit Willi ein Albtraum sind und unsere Höhen vielleicht deswegen umso mehr herausragen. – Es ist wohl so, dass wir wirklich die gleichen Probleme haben wie alle anderen Familien (und Gummitiere im Klo sind ganz sicher ein kleineres). Aber warum darf man sich eigentlich nicht über Dinge beklagen, die die anderen auch haben? Und was ist das für ein komischer Wettbewerb unter den Müttern nach dem Motto «Wer hat es schwerer mit seinem Kind»? Weil ich kein Spielverderber sein will, mache ich da nicht mit, denn wir sind in vielen Bereichen einfach unschlagbar (oder kennen Sie ein Kind, das wie Willi acht eitrige Mittelohrentzündungen im Jahr schafft?). Denn selbst die vielen «Normalokinder», die wie mein Sohn Willi ganz normal zur Logopädie gehen, können im Gegensatz zu Willi wenigstens überhaupt etwas sprechen! Und natürlich haben auch «normale» Vierjährige Brillen, Hörgeräte, Paukenröhrchen, Windeln, Ergotherapie, Atemwegsinfekte und werfen den Teller an die Wand oder ziehen sich nicht selbst an und aus. Aber wir sind anscheinend in einer Art Hypernormalität gefangen! Wenn auf ein Kind all diese Dinge gleichzeitig zutreffen, dann nennt man das eben nicht mehr normal, sondern behindert. Warum etwas gleichreden, was nicht gleich ist? Ich persönlich kann den Blödsinn nicht mehr hören: Alle Kinder sind doch verschieden, das eine ist blond, das andere trägt eine Brille und noch ein anderes ist eben behindert (wobei das Wort natürlich nicht direkt ausgesprochen wird). Für mich ist das wie Äpfel mit Birnen vergleichen.

      Von unserem Leben in der Extremnormalität möchte ich Ihnen in diesen Texten hier erzählen. Ich werde über unseren Alltag mit Willi und Olivia schreiben, über meinen tollen Ehemann rumnölen, mich über besondere Begegnungen freuen, mich immer wieder über blöde Kommentare auslassen, selbst politisch Unkorrektes schreiben und bekennen, dass ich manchmal völlig überfordert bin und der schönste Moment des Tages dann der ist, wenn beide Kinder schlafen.

      Ich werde mich angreifbar machen, weil ich offen zugebe, nicht jede Therapie für meinen Sohn mitzumachen, und weil ich «trotzdem» arbeite und auf Lesereisen ins Ausland fahre. Ich mache mich bei den Eltern anderer behinderter Kinder unbeliebt, weil ich nicht glaube, dass nur die Gesellschaft mein Kind behindert, sondern dass er eben einfach auch behindert ist. Ich stelle meine Mitmenschen vor die Herausforderung, meinen Willi in all seiner Andersartigkeit zu nehmen und zu lieben, wie er ist. Ich nehme mir das Recht heraus, jeden noch so winzigen Fortschritt meines Sohnes wild zu feiern und daneben dem Wunder der normalen Entwicklung meiner Tochter zu huldigen. Und ich werde rumjammern über die Dinge, die den Alltag von allen Familien so schwer machen, aber über die man sonst nicht jammern darf, weil es ja jedem so geht!

      Sondermodell Willi

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      Mir ist in letzter Zeit immer häufiger aufgefallen, dass Kinder als «Anschaffung» bezeichnet werden. Eigentlich ein komplett unpassender Ausdruck, der laut Definition einen entgeltlichen Vorgang bezeichnet, bei dem ein Wirtschaftsgut von einem Eigentümer auf einen anderen übergeht. All das trifft zum Glück bei einem Kind nicht zu!

      Mein Mann und ich haben unser erstes Kind vor gut vier Jahren «angeschafft». Die Anschaffung unseres Sohnes Willi war vollkommen kostenfrei, wir hatten ihn zwar nicht bestellt, uns über die pünktliche Lieferung zum Stichtag aber gefreut und waren dann einigermaßen überrascht, dass er ein «Sondermodell» war. Eine Bedienungsanleitung lag nicht bei.

      Willi hat ein winzig kleines Chromosom mehr in jeder seiner Zellen als die meisten anderen Menschen. Er hat das Down-Syndrom und das West-Syndrom, eine schwere Form der Epilepsie. Seine Augen sind leicht schräg gestellt, sein Mund steht meistens offen und seine Zunge ist zu sehen. Unser Willi kann kein Wort sprechen, er kann sich weder selbst an- noch ausziehen, nicht aufs Klo gehen, nicht richtig mit einem Löffel essen, er kann niemals ruhig sitzen oder stehen und er kann sich selten länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren.

      So würde ein Außenstehender vielleicht meinen Sohn beschreiben. Wir Mütter behinderter Kinder nennen diese Sichtweise «defizitorientiert», da sie hauptsächlich benennt, was unsere Kinder nicht können.

      Jetzt das Ganze mal aus anderer Sicht: Willi ist ein gesunder, fröhlicher Junge mit wunderschönen Mandelaugen! Er kann ihm bekannte Menschen erkennen, er kann eine ganze Reihe Gegenstände (besonders Essbares) auf Bildern zeigen und mit Gebärden benennen. Willi kann unsere Hand nehmen und uns zum CD-Spieler führen, wenn er Musik hören möchte. Willi kann selbstständig die Mütze absetzen und (leider) den Reißverschluss seines Schneeanzuges öffnen. Willi kann laufen (und macht das auch den ganzen Tag) und Willi hält einen konsequenten Sitzstreik durch, wenn er in die Richtung laufen soll, die ein anderer bestimmt.

      Für mich ist das alles normal, auch wenn ich weiß, dass irgendwie nichts von alldem wirklich normal ist. In der Öffentlichkeit fallen wir oft auf. Wir sind lauter, wir sind irgendwie «doller» als die anderen – in jeglicher Beziehung. Als Willi knapp zwei Jahre alt war, da haben wir uns noch ein Kind «angeschafft». Willis kleine Schwester Olivia. Sie führt uns täglich das Wunder der normalen Entwicklung vor Augen. Auch sie fordert uns als Eltern heraus, aber trotzdem ist die Art der Anstrengung nicht miteinander vergleichbar.

      Ich versuche damit aufzuhören, Außenstehenden die emotionale Belastung zu erklären, unter der wir leiden. Zu oft werde ich einfach nicht verstanden oder meine Äußerungen werden als ein Beklagen über unser Leben missgedeutet. Der Satz «… das hast du aber mit einem normalen Kind auch» macht mich manchmal richtig wütend. Und trotzdem habe ich immer wieder den Wunsch, man möge uns verstehen. Das Leben mit Willi ist (und bleibt es auch) in jeder Beziehung deutlich mühevoller – und oft sind wir überfordert. Aber unser Leben ist durch Willi auch viel intensiver. Jeden Tag fühle ich, dass wir wirklich leben. Wir haben so unvorstellbares Leid erfahren durch Willis Krankheiten und so unendliches Glück durch ein einziges Lachen von ihm! Wir leben seither in jeder Hinsicht extremer.

      Demnach müsste mein Sohn also voll im Trend liegen. Viele Menschen sind doch heute auf der Suche nach dem Kitzel des Extremen, nach großen Gefühlen und mehr Individualität. Diesen Menschen kann ich ein Kind mit Down-Syndrom nur ans Herz legen! Komisch eigentlich, dass die Abtreibungszahlen von Kindern mit Down-Syndrom trotzdem ständig zunehmen. In Deutschland liegen sie bei über 90 Prozent.

      Mir scheint, als würden immer mehr Menschen versuchen, ihr Leben so unverbindlich wie möglich zu planen. Kinder sind wohl so ziemlich die einzige «Anschaffung», bei der man sich wirklich festlegen muss. Ein Kind lässt sich nicht so einfach wieder abschaffen, auch wenn der eine oder andere Elternteil durch das Verlassen der Familie eben genau das zu tun versucht. Willi, Olivia und ich haben das Glück, dass wir nicht wieder abgeschafft wurden. Nach den schwierigen Anfangsjahren haben wir nun unsere Normalität neben der Norm allmählich gefunden.

      Ich hadere nicht mit unserem Schicksal. Ich denke, Willi ist genau das Kind, das zu uns passt. Und doch taucht in den Gesprächen mit meinem Mann immer wieder die Frage auf, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns damals doch für pränatale Diagnostik und dann für eine Spätabtreibung unseres Kindes entschieden hätten. Vor meinen Augen scheine ich es deutlich zu sehen: Wir wären keine glücklichere Familie! Wahrscheinlich wären wir heute gar keine Familie. Hätte