Statt sich wirklich mit behinderten Menschen zu beschäftigen, wird ständig um die Sprache gefeilscht. Aber hübsche Wortschöpfungen lösen wirklich kein einziges unserer Alltagsprobleme – auch nicht, wenn sie englisch sind.
Ich habe einmal an einer Universität für Studierende der «Heilpädagogik» aus diesem Buch gelesen. Die Zuhörer erzählten danach, dass sie die Lesung besonders interessant fanden, da sie endlich einmal etwas über das echte Leben und Verhalten eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfahren hätten. Als ich erstaunt frage, womit sie sich denn im Studium sonst so beschäftigten, stellte sich heraus, dass sie sich zwar ausgiebig mit Themen wie «Behinderung als rein gesellschaftliches Konstrukt» auseinandergesetzt hatten, aber nie damit, was «Behinderung» konkret für Menschen bedeutet. Und wirkliche Begegnungen mit «solchen Menschen» hatten die wenigsten gehabt – und wenn, dann nur im privaten Bereich.
Für mich als Mutter eines schwerbehinderten Kindes scheint es dagegen ziemlich irrelevant, ob nun Akademiker Behinderung als ein von der Gesellschaft erzeugtes Phänomen entlarven oder nicht, denn rein praktisch muss ich meinem Sohn dann immer noch selber den Hintern waschen. Ich hätte wirklich mehr davon, wenn jemand von den Studis mit Willi öfter mal einen Ausflug in den Zoo machen würde.
Meine persönliche Erfahrung zeigt mir immer wieder: Wer keine Berührungsangst mit dem Thema hat, muss auch keine Angst vor dem Wort haben. Und wo man allzu verkrampft versucht, dem Wort auszuweichen, versucht man oft auch, der Realität von Menschen mit Behinderung auszuweichen.
Das kann einem in diesem Buch auf jeden Fall nicht passieren!
Und wie ist denn nun unsere Realität heute? Es ist nicht immer einfach bei uns, aber das darf wohl jeder Mensch über sein Leben sagen.
Wir sind oft glücklich und oft erschöpft und brauchen auch oft Hilfe bei der Bewältigung unseres Alltags – und ich bin leider immer noch keine Großmeisterin darin, Hilfe einzufordern. Aber ich übe weiter. Zum Glück haben wir unsere Eltern,* die immer an unserer Seite sind, ganz ohne dass wir sie darum bitten müssen.
Es fehlt mir besonders, auch mal etwas Zeit mit Matthias allein zu verbringen. An Willis neuntem Geburtstag haben wir mit Champagner angestoßen und uns nur halb scherzhaft gegenseitig gratuliert: Die Hälfte haben wir geschafft.
Grundsätzlich finde ich allerdings, dass es mit den Jahren alles immer ein Stück leichter wird. Willi macht seine ganz kleinen Schritte, Olivia macht ihre ganz großen Schritte, und ich versuche mitzuhalten durch Akzeptanz für alles, was kommt (oder eben auch nicht).
Hier zum Abschluss vielleicht einfach eine kleine Liste erstaunlicher Gegebenheiten aus unserem Leben, die ich mir vor sieben Jahren nicht hätte vorstellen können:
– Willi trägt tagsüber keine Windel mehr und sagt Bescheid, wenn er auf die Toilette muss.
– Olivia findet alles peinlich, was rosa ist oder glitzert, und ihre Wunschfrisur ist eine Haarlänge von 3 mm (was sie auch bereits auf der einen Seite ihres Kopfes trägt).
– Willi läuft nicht mehr weg!
– Mein Mann vergisst immer noch die Einkaufszettel und weiß bis heute nicht, welchem Kind welche Jogginghose gehört.
– Willi hat nicht die Zahlen gelernt, außer der «Eins» (was bei ihm wie «ass» klingt). Darum ist es besonders lustig, wenn er zählt. Er legt fünf Karten auf den Tisch und spricht dazu konzentriert: «Ass, ass, ass!»
– Willi ist ein großer Kenner klassischer Musik geworden. Er hört alle sechs Teile des Weihnachtsoratoriums von Bach konzentriert am Stück und liebt zum Beispiel die Carmina Burana von Carl Orff und Opern (alles parallel zu «Alle meine Entchen» und Co.).
– Olivia kann ohne ihren Nönö schlafen. (Der Nönö war über zehn Jahre ihr absolut lebensnotwendiger Schnuffellappen.)
– Willi ist in die Pubertät gekommen, und er bekommt schon Schambehaarung. (Ich weiß, es ist sehr indiskret, das zu schreiben; aber da sein körperliches Reifen für uns ein komplett verblüffendes Phänomen ist, tue ich es trotzdem.)
– Mein Mann scheint dagegen aus der Pubertät nie wirklich herausgekommen zu sein (die beiden amüsieren sich jetzt gemeinsam prächtig über ihre Pupse).
– Ich kann mit Willi in einen Supermarkt gehen, ohne dass er Dinge aus den Regalen reißt. (Er beißt nur ab und zu mal in eine Gurke, damit kann ich leben.)
– Letztes Wochenende habe ich bis 9.30 Uhr (in Worten: «halb zehn»!) geschlafen!
– Ein neuartiges Virus legt seit über einem Jahr unser Leben lahm. Da Willi sich weder an Abstandsregeln noch an das Tragen eines Mundschutzes halten kann, sind wir zuhause eingesperrt. Trotzdem musste noch keiner von uns in eine Einrichtung eingewiesen werden (das ist wahrscheinlich das Erstaunlichste in meinem Leben überhaupt).
Viel Spaß beim Lesen!
* Und «Oma» und «Opa» sind mit Abstand die Worte, die Willi am verständlichsten und am häufigsten spricht!
Willis Welt. Wie alles begann
Eines Tages fragte mich der Leiter des Verlags Freies Geistesleben, ob ich nicht für das Lebensmagazin a tempo einen Artikel schreiben möchte. Ich hatte gerade für den Verlag ein Buch illustriert, in dem die Hauptfigur Denni (so wie mein Sohn Willi) das Down-Syndrom hat. Ich wusste zwar nicht genau, was ein Lebensmagazin ist, aber weil ich gern über Willi schrieb und mir das Heft gefiel, sagte ich zu (und gut bezahlt wurde ich sogar auch noch dafür). Mein Auftrag war recht frei umrissen: Es sollte um unser Leben mit einem behinderten Kind und das neue Buch gehen. Herausgekommen ist Sondermodell Willi, ein Text, der sich einzig und allein mit der Existenzberechtigung meines Sohnes auseinandersetzt – das neue Kinderbuch allerdings blieb unerwähnt.* Das war die Geburtsstunde von Willis Welt, einer Kolumne, die ich die folgenden zwei Jahre für a tempo schrieb. In diesem Buch finden Sie alle Kolumnen in gnadenlos ungekürzter Form. Willi war in dieser Zeit zwischen vier und sechs Jahre alt. Ein paar in dieser Form bisher unveröffentlichte Texte sind noch dazugekommen, denn ich möchte Ihnen die absolut grenzwertige Zeit vor Willis viertem Lebensjahr nicht ganz unterschlagen. Viel Spaß im Irrenhaus!
* Deswegen möchte ich es wenigstens hier nennen: Der Titel lautet Denni, Klara und das Haus Nr. 5 und die Autorin ist Brigitte Werner.
Gefangen in der Extremnormalität
Wenn ich anderen Müttern glauben darf, ist bei uns zu Hause alles ganz normal, eben so wie bei allen anderen Familien auch. Allerdings hätte ich meinen Mann und mich schon vor der Geburt unserer Kinder als nicht ganz normal bezeichnet, deswegen passt es wohl auch ganz gut, dass gerade wir ein Spezialkind bekommen haben.
Willi schafft es tatsächlich, sich noch bekloppter zu verhalten als wir selbst. Mein Mann und ich sind alberne Menschen, aber wir haben wenigstens meistens einen erkennbaren Grund dafür, wenn wir loslachen. Willi bringt seine Lachattacken ganz ohne ersichtlichen Anlass zustande – Respekt! Da mag man denken: Die arme kleine Schwester Olivia, die kurze Zeit später ebenfalls noch in diese Familie gekommen ist!
Tatsächlich