Horst Bachmann warf seinem Schwiegersohn einen tadelnden Blick zu. „Meine Tochter ist keine hinterhältige, verlogene Schlange.“
„Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur ...“
Draußen hielt ein Wagen. Claus unterbrach sich, eilte zum Fenster, sah hinaus und sagte erleichtert: „Petra! Endlich!“
„Na, siehst du“, lächelte der Bankier. „Du hast dir völlig grundlos Sorgen gemacht.“
Als Petra ins Wohnzimmer kam, überfiel Claus sie sogleich mit einem Wortschwall. „Liebes, mein Gott, wo warst du so lange? Ich war in großer Sorge um dich. Allmächtiger, du bist ja betrunken! Wie konntest du in diesem Zustand mit dem Auto fahren? Das war unverantwortlich von dir!“
„Ich bin nicht betrunken“, widersprach Petra.
„Ich rieche Wein.“
„Du riechst Valpolicella, um ganz präzise zu sein“, entgegnete Petra.
„Wo warst du?“, fragte Claus streng.
Sie zuckte die Schultern. „Überall und nirgends.“
„Das ist keine Antwort, die mich zufriedenstellt. Ich möchte es schon ein wenig genauer wissen. Ich bin schließlich dein Mann ...“
Sie kicherte. „Ach ja? Bist du das?“
„Was soll das, Petra?“, sagte Claus ungehalten. „Wieso kommst du so spät nach Hause, und noch dazu in diesem ... diesem Zustand? Ich finde, du bist mir eine Erklärung schuldig.“
Petra beschloss, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist immer gut, dachte sie, da kann man sich nie verplappern. Lügen muss man sich sehr gut merken. Mit der Wahrheit hingegen kann man völlig sorglos umgehen, denn die Wahrheit wird immer wahr bleiben.
„Ich habe einen alten Freund wiedergetroffen“, sagte sie. „Und wir haben dieses Wiedersehen ein wenig gefeiert.“
Horst Bachmann horchte auf. „Einen alten Freund? Jemand, den ich kenne?“
„Erinnerst du dich an Walter Schmidt, Papa?“
„O ja.“ Der Bankier machte eine wegwerfende Handbewegung. „Leider. Das ist kein Umgang für dich, Kind, das habe ich dir früher schon immer gesagt.“
Er wird der Vater meines Babys werden, dachte Petra trotzig.
„Darf ich auch erfahren, wer dieser Walter Schmidt ist?“, warf Claus Praetorius ärgerlich ein.
Wieder eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, niemand von Bedeutung“, sagte der Bankier geringschätzig. „Ein Mann, der es nicht wert ist, dass man sich seinen Namen merkt. Er ist mit Petra aufgewachsen. Es gelang mir nicht immer, ihn von ihr fernzuhalten. Ich weiß nicht, was sie an ihm fand. Ich habe nie etwas von Walter Schmidt gehalten.“
So ein Pech, dachte Petra gallig. Und ausgerechnet von diesem Mann wird dein Enkelkind sein!
„Du hast dich gefreut, ihn wiederzusehen“, sagte Claus, um Verständnis bemüht, „hast mit ihm Wein getrunken, aber du wirst ihn nicht wieder treffen, nicht wahr?“
„Wer kann schon in die Zukunft sehen?“ Petra lächelte sphingenhaft. „Eine zufällige Begegnung wie die heutige ist immer wieder möglich. Walter und ich leben in derselben Stadt, da kann man nie sicher sein, dass man sich nicht doch mal wieder über den Weg läuft.“
„Aber du wirst den Kontakt zu diesem Mann nicht absichtlich suchen, nicht wahr?“, bedrängte Claus sie weiter.
Doch, mein lieber, feiger, unterwürfiger und gehorsamer Gemahl, das werde ich, dachte Petra grimmig und kämpfte gegen die hochsteigenden Tränen an, und ich werde sogar noch viel mehr tun. Ich werde – es wird mir nicht leichtfallen, aber ich werde es tun, bei Gott, ich werde es tun –, ich werde mit diesem Mann ins Bett gehen, werde ihn dafür bezahlen, dass er mit mir schläft. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich das einmal nötig haben würde! Aber ich werde ihm eine Menge Geld geben, damit er mir ein Kind macht.
Claus wartete auf ihre Antwort, doch sie gab ihm keine.
„Ich bin müde“, sagte sie stattdessen. „Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.“ Sie sah ihren Mann an. „Wo schläfst du?“
„Ich weiß es nicht.“
„Ich habe nichts dagegen, wenn du bei mir ...“
Claus’ Miene hellte sich auf. „Ich komme in wenigen Minuten nach.“
Sie nickte und ging. Claus dachte, sich in dieser Nacht mit ihr völlig versöhnen zu können, doch sie wies ihn ab. Sie sei einfach zu müde, meinte sie, und er solle ihr das nicht übelnehmen.
„Natürlich nicht“, sagte er rau und enttäuscht, drehte sich um und lag dann sehr lange wach. Viele Dinge gingen ihm durch den Kopf.
Unschöne Dinge, in denen dieser Walter Schmidt eine Hauptrolle spielte. Claus Praetorius hatte bisher immer geglaubt, sich seiner anständigen Frau sicher sein zu können, doch nun quälten ihn auf einmal starke Zweifel.
Claus Praetorius war zum ersten Mal im Leben richtig eifersüchtig, und das war, er musste es wohl oder übel eingestehen, kein schönes Gefühl. Es bohrte und nagte an ihm.
Es ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, schuf schreckliche Bilder und beflügelte seine Phantasie immer mehr. Er hasste es, von seinen eigenen Gedanken dermaßen gepeinigt zu werden, aber er wusste nicht, wie er sie abstellen konnte.
Liebte ihn Petra überhaupt noch? Sie war so kühl, so abweisend geworden, erlaubte ihm nicht einmal mehr, sie zu berühren. War es ein Fehler, so sehr auf den Willen des Schwiegervaters Rücksicht zu nehmen?
Was aber war, wenn er recht hatte, wenn die Ärzte sich tatsächlich geirrt hatten? Ausgeschlossen? War das wirklich völlig ausgeschlossen?
Es war schon vorgekommen, dass Ärzte einem Patienten nur noch ein halbes Jahr zu leben gegeben hatten, und er war wieder gesund und steinalt geworden.
Sicher, so etwas kam selten vor, aber es passierte hin und wieder. Niemand wusste, wer die Ausnahme war. Vielleicht war es Petra.
Claus Praetorius quälte sich durch eine schlaflose, mit furchtbaren Gedanken prallgefüllte Nacht. Lange vor der gewohnten Zeit stand er auf und nahm eine eiskalte Dusche, um frisch zu werden.
Er hätte nicht gedacht, dass er mit Petra mal nicht glücklich sein würde, aber er musste sich bedauerlicherweise eingestehen, dass ihre Beziehung nach nur zwei Ehejahre merklich abgekühlt war.
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Die Liebe ließ Dr. Yvonne Wismath aufblühen. Alle konnten es sehen. Sie strahlte so glücklich und lebensfroh, dass es einfach jedermann auffallen musste.
Ihr privates Glück und ihre permanent gute Laune übertrugen sich natürlich auch auf ihre Arbeit und kamen in der Seeberg-Klinik vielen Patienten zugute.
Dr. Ulrich Seeberg war mit der schönen Kollegin sehr zufrieden. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie ihre Absicht, nach Freiburg an die Universitätsklinik zu gehen, fallenlassen und sich statt dessen entschlossen hätte, in seiner Klinik zu bleiben, aber darauf hoffte er wohl vergeblich.