Petrow verstand und starrte wieder ausdruckslos vor sich hin. Der Gefangene brauchte nicht unbedingt zu wissen, dass Petrow freiwillig mit dem Amerikaner ging.
Steve holte aus, und seine trainierte Handkante sauste genau auf die Stelle, wo es am wirkungsvollsten war. Der Russe stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum.
„Schnell, machen Sie sich fertig, wir müssen uns jetzt beeilen“, sagte Steve.
Petrow reagierte sofort und zog einen schweren Koffer unter dem Bett hervor.
„Nein. Nur Ihre Aktentasche. Auf den Rest müssen Sie verzichten. Wir haben keinen Gepäckträger dabei. Nehmen Sie nur das Notwendigste! Alles andere ist zu ersetzen.“
Er wühlte in seinem wasserdichten Beutel und kramte das Kästchen mit den Betäubungsspritzen heraus. Es dauerte nur Sekunden, dann war der Wachtposten versorgt.
Petrow kramte seine Papiere zusammen und stopfte sie in eine geräumige Aktentasche.
Sie wandten sich zum Gehen, als Steve McCoy noch eine Idee hatte. „Helfen Sie mir!“ Gemeinsam hoben sie den Bewusstlosen hoch und legten ihn auf das Bett. Sie rollten ihn auf die Seite und zogen die Decke über ihn. Falls jetzt zufällig jemand ins Zimmer kam, würde er annehmen, dass Petrow schliefe.
„Wie geht’s jetzt weiter?“, erkundigte sich der Wissenschaftler.
„Sie tun genau das, was ich sage. Wir müssen runter zum Strand. Die Wachen sind ausgeschaltet. Folgen Sie mir!“
Petrow presste seine Aktentasche an sich und gehorchte.
Draußen rührte sich nichts. Der Strand lag immer noch verlassen da. Unter seinem Anzug war Steve McCoy schweißüberströmt. Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Zeit drängte langsam, wenn er den Treffpunkt mit Leila rechtzeitig erreichen wollte. Und das musste er, denn ohne den Wagen waren sie verloren.
Sie hasteten über den Sand, bis sie die Deckung des Gerüstes erreichten. Petrow stieß einen erschreckten Laut aus, als er die reglose Gestalt neben der Kabeltrommel bemerkte. Steve packte ihn an der Schulter. .„Los, weiter, wir müssen auf den Ponton!“
Petrow murmelte vor sich hin und schien nicht ganz glücklich darüber, dass er sich nassmachen musste.
„Geben Sie mir die Tasche und ziehen Sie Ihre Sachen aus!“
Fröstelnd stieg Petrow in das dunkle Wasser und schwamm zum Ponton. Steve McCoy folgte und tastete nach seinen Schwimmflossen. „Ziehen Sie sich wieder an, wenn Sie trocken sind, und bleiben Sie immer in Deckung der Stahlröhre! Ich hole jetzt ein Schlauchboot. Es dauert nicht lange. Und verhalten Sie sich ruhig!“
Petrow nickte. „Beeilen Sie sich! Es wird Zeit, dass wir hier wegkommen.“
Steve McCoy glitt ins Wasser und schwamm so schnell er konnte zu dem Felsen, an dem er das Boot versteckt hatte. Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis er endlich das Schlauchboot losmachte und zurückschwamm, eine phosphoreszierende Spur hinter sich.
Petrow sah ihm ängstlich entgegen und betrachtete zweifelnd das winzige Schlauchboot. Steve musste ihn fast hineinschubsen. „Machen Sie sich so flach wie möglich“, sagte er. „Ich ziehe das Boot, das geht schneller.“
Sie waren noch keine zweihundert Meter entfernt, als die Hölle losbrach.
Im Lager heulte eine Sirene, Lampen flammten auf, Schreie und scharfe Kommandos ertönten. Die Scheinwerfer auf den Wachttürmen bewegten sich ziellos hin und her. Taschenlampenstrahlen tanzten durch die Gegend, zahllose Männer schienen ziellos umherzulaufen.
Steves Eindringen war früher bemerkt worden, als ihm lieb war. Wahrscheinlich war es bei einer Wachablösung passiert. Jetzt half nur noch eine schnelle Flucht.
Um den Scheinwerfern zu entgehen, die vom Zaun mitunter auch auf das Wasser leuchteten, musste er in gerader Linie vom Strand weg. Das führte ihn allerdings in unmittelbarer Nähe des vor Anker liegenden Schiffes, wo an Deck in diesem Augenblick ebenfalls die Lichter aufflammten.
Noch war anscheinend niemand auf die Idee gekommen, dass der Eindringling auf dem Seeweg entfloh, aber das musste in den nächsten Minuten bemerkt werden.
Steve keuchte vor Anstrengung und bemühte sich, seine Geschwindigkeit zu steigern. Aber die strömungsungünstige Form des Schlauchbootes hemmte ihn sehr.
Allmählich war er so weit vom Lager entfernt, dass er wieder parallel zur Küste steuern konnte, dorthin, wo der Wagen wartete.
Er glaubte schon, dass sie es geschafft hätten, als ein starker Lichtschein über die Wasseroberfläche glitt. Auch auf dem Schiff hatte man einen Scheinwerfer angeschaltet.
Schließlich waren sie entdeckt. Steve McCoy blinzelte, als ihn der helle Schein blendete. Petrow schrie ängstlich auf.
„Ruhe!“, brüllte Steve, „wir schaffen es noch. Bis die ein Boot ins Wasser gelassen haben, sind wir weit genug.“
In diesem Augenblick ratterte ein Maschinengewehr los. Steve McCoy sah die lange Reihe der kleinen Fontänen in einiger Entfernung aufspritzen, aber sie kamen näher. Immerhin waren sie schon so weit weg, dass gezielte Treffer fast unmöglich waren. Aber auch ungezielte Kugeln konnten töten …
Die nächste Garbe lag verdammt nahe. Dann verlor sie der Scheinwerfer. Steve änderte sofort die Richtung zum Land hin. Wieder hörte er das Maschinengewehr rattern. Er spürte, wie das Schlauchboot von mehreren Geschossen getroffen wurde. Zischend entwich die Luft.
„Sind Sie verletzt?“, fragte Steve atemlos und nahm dabei einen Schluck Mittelmeerwasser zu sich.
Petrow jammerte nur auf Russisch vor sich hin, und Steve McCoy verstand kein Wort.
Die nächsten Geschosse lagen wieder sehr weit ab. Der Schütze hatte sie verloren. Auch der Scheinwerfer suchte einen entfernteren Bereich ab, der Kurswechsel zahlte sich aus.
Aber das Schlauchboot sank langsam …
Die Küstenlinie, dunkel vor dem langsam heller werdenden Horizont, kam näher. Sie mussten an Land, obwohl das an dieser Stelle noch nicht geplant war. Aber Steve hatte gesehen, wie an den Davits des Schiffes ein Beiboot ausgeschwenkt wurde, und das hatte mit Sicherheit einen Motor. Nur eine Flucht an Land konnte sie jetzt noch retten.
Steve schwamm wie ein Weltmeister, aber Petrow bekam langsam nasse Füße. Er saß hilflos im Boot, das schon bedenklich tief im Wasser lag und presste seine Tasche wie einen Schatz an sich.
Sie schafften es gerade noch, das flache Ufer zu erreichen, ehe das Boot gänzlich unterging. Petrow stolperte völlig durchnässt über den steinigen Strand und ließ sich einfach fallen.
Steve brach neben ihm zusammen – völlig außer Atem. Er zwang sich, ruhiger zu atmen, aber sie waren noch nicht in Sicherheit. Hier konnten sie nicht bleiben. Unter Aufbietung aller Kräfte stemmte er sich wieder hoch und zerrte den Wissenschaftler mit sich. „Wir müssen weiter“, brachte er mühsam heraus.
Er zog ihn am Arm hinter sich her, immer am Ufer entlang. Hoffentlich hatten die anderen noch keine Patrouillen ausgeschickt, um sie abzufangen.
Steve hätte später nicht sagen können, wie lange diese Flucht durch nassen Sand und über scharfe Steine dauerte. Mit brennender Kehle stolperte er vorwärts, seine Beine bewegten sich automatisch, wie bei einer Maschine, vorwärtsgetrieben von einem eisernen Willen.
Es war schon fast hell, als sie endlich den Treffpunkt erreichten. Leila war noch da, obwohl die verabredete Zeit schon überschritten war. Sie sah den beiden fassungslos entgegen. Gleich darauf reagierte sie schnell, riss die Türen des Autos, auf und ließ die beiden Männer einsteigen, ohne eine Frage zu stellen.
Steve spürte nur noch im Unterbewusstsein, wie der Wagen anfuhr, dann sank er auf dem Rücksitz völlig erschöpft zusammen.
20.
Alexej