Epistolare Narrationen. Margot Neger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margot Neger
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302827
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Adressaten und Figurenarsenal

      Die Briefsammlung präsentiert uns ein breites Spektrum an Personen, von denen die meisten als Adressaten der Briefe fungieren, andere als handelnde Figuren und viele in beiden Rollen. Plinius konstruiert in seinen Briefen eine soziale „community“, mit der er auf verschiedene Weise interagiert und vor deren Hintegrund er seine eigene Persönlichkeit profiliert.1 Was die Adressaten der Briefe betrifft, hat man sich bisher weniger mit literarischen als prosopographischen Fragen beschäftigt2 oder prominenteren Briefpartnern wie Tacitus und Sueton die Aufmerksamkeit geschenkt.3 Im Unterschied zu Briefsammlungen wie etwa denjenigen Ciceros und Senecas sind die neun Briefbücher des Plinius nicht nach Adressaten arrangiert oder nur an einen Adressaten gerichtet, sondern spiegeln das in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 formulierte Prinzip der zufälligen Anordnung wider, indem jeder Brief für einen anderen Empfänger bestimmt ist, was der Sammlung einen „reality effect“ verleiht.4 Manche Adressaten, wie etwa Tacitus, Calpurnius Fabatus oder Voconius Romanus,5 erhalten mehrere Briefe, während andere seltener oder gar nur einmal als Empfänger auftauchen.6 Sowohl thematisch als auch hinsichtlich der Empfänger ist die Briefsammlung dem Prinzip der Abwechslung verpflichtet, wobei folgende Ausnahmen bzw. Besonderheiten ins Auge stechen: In Epist. 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 sowie 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20 und 3,1Plinius der JüngereEpist. 3.1 wird in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Schreiben derselbe Adressat angesprochen.7 Der Brief 3,10Plinius der JüngereEpist. 3.10 wiederum ist an zwei Empfänger gerichtet, nämlich Vestricius Spurinna und seine Frau Cottia.8 Während die Mehrzahl der Plinius-Briefe an Männer von unterschiedlicher sozialer Stellung adressiert ist, gibt es auch eine Reihe von Frauen, die uns als Empfängerinnen begegnen.9 Gibson und Morello (2012: 141) weisen darauf hin, dass die meisten für Plinius wichtigen Personen bereits in Buch 1 der Briefe auftreten und später in der Sammlung erneut in Erscheinung treten. Da Plinius sein Briefkorpus sorgfältig komponiert hat, dürfte auch das Auftreten der verschiedenen Adressaten keineswegs dem Zufall geschuldet sein, sondern auf kompositorischen Prinzipien basieren. Während manche Personen bereits als handelnde Figuren agieren, bevor sie in die Rolle des Briefempfängers schlüpfen, verhält es sich bei anderen umgekehrt.

      Für den modernen Leser mag es ungewöhnlich erscheinen, dass Plinius als ersten Adressaten und gleichzeitig WidmungsträgerPlinius der JüngereEpist. 1.1 der Sammlung Septicius Clarus gewählt hat, der zur Zeit der Veröffentlichung noch relativ unbedeutend gewesen sein dürfte und sich erst unter Hadrian politisch etablierte.10 Sherwin-White (1966: 85) vermutet, dass Plinius es vermeiden wollte, andere Senatoren vor den Kopf zu stoßen, indem er jemanden aus dem Rittestand an den Anfang des Briefkorpus stellte. Hoffer (1999: 22) interpretiert die Wahl des WidmungsträgerPlinius der JüngereEpist. 1.1s als Ausdruck dessen, dass Plinius – anders als etwa sein Zeitgenosse Martial – keiner Widmung „nach oben“ bedurfte und Septicius Clarus lediglich ein „Platzhalter“ sei und beliebig ausgetauscht werden könne. Gowers (1993: 272) hingegen argumentiert, dass Plinius den zukünftigen Erfolg des Clarus vorausgeahnt und sozusagen in die Zukunft „investiert“ habe. Gibson und Morello (2012) wiederum sehen die Wahl des Widmungsträgers vor dem Hintergrund der Selbstdarstellung des Plinius, in dessen Briefkorpus die Interaktion mit sozial niedriger gestellten Personen großen Raum einnimmt.11 Wie schon in anderem Zusammenhang besprochen wurde, bietet sich der Name Clarus auch für ein Wortspiel an, indem er am Beginn der Briefsammlung Pedanius Fuscus, dem Adressaten des letzten Briefes, gegenübersteht.12

      Mehreren Figuren, die in anderen Briefen als Adressaten auftauchen, begegnen wir innerhalb der Narration in Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5, wo mit Marcus Aquilius Regulus eine Kontrastfigur zu Plinius eingeführt wird, die der Epistolograph auch anderweitig negativ charakterisiert.13 Regulus erscheint in der Briefsammlung stets als handelnde Figur, niemals jedoch als Adressat. Anders verhält es sich mit Caecilius Celer, Fabius Iustus, Vestricius Spurinna und Iunius Mauricus, die allesamt in der Handlung der Epist. 1,5 „mitspielen“ und in späteren Briefen auch die Rolle der Adressaten übernehmen.14 Voconius Romanus wiederum, der Adressat von Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5, erhält seinerseits eine Reihe an Briefen mit einem breiten inhaltlichen Spektrum und überwiegend bedeutenden Themen:15 Epist. 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1 über das Staatsbegräbnis für Verginius Rufus, 3,13Plinius der JüngereEpist. 3.13 über den Panegyricus, 6,15Plinius der JüngereEpist. 6.15 über einen peinlichen Vorfall bei einer Rezitation, 6,33Plinius der JüngereEpist. 6.33 über die Rede für Attia Viriola, 8,8Plinius der JüngereEpist. 8.8 über den Fons Clitumnus, 9,7Plinius der JüngereEpist. 9.7 über Plinius’ Villen am Comersee und 9,28Plinius der JüngereEpist. 9.28 mit dem Dank für drei Briefe, die Voconius aus Spanien gesendet hat; Voconius wird außerdem in Epist. 2,13Plinius der JüngereEpist. 2.13 einem gewissen Priscus empfohlen und in diesem Rahmen näher charakterisiert,16 und in Epist. 10,4Plinius der JüngereEpist. 10.4 bittet Plinius Kaiser Trajan, Voconius Romanus in den Senatorenstand zu erheben. Als Figur, die neben Tacitus und Calpurnius Fabatus zu den häufigsten Adressaten im Briefkorpus zählt, fungiert Voconius Romanus als eine Art „navigational landmark“ für den Leser,17 der sich innerhalb einer Vielzahl von bekannten und weniger bekannten Individuen zu orientieren versucht.

      Zu den für heutige Leser vermutlich weniger bekannten Zeitgenossen des Plinius dürfte etwa Cornelius Minicianus gehören, der insgesamt drei Briefe erhält (3,9; 4,1; 8,12) und selbst Gegenstand der Epist. 7,22Plinius der JüngereEpist. 7.22 ist, wo er von Plinius für das Amt des Militärtribuns empfohlen wird. Die betreffenden Briefe sind inhaltlich und formal unterschiedlich gestaltet, insofern als es sich bei 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 und 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 um narrative Texte handelt – ein Prozessbericht und eine Art „Sensationsgeschichte“ –, während Epist. 8,12Plinius der JüngereEpist. 8.12 stärker dem Prinzip des loqui verpflichtet ist, wenn Plinius seine Gründe für den Besuch bei einer bevorstehenden Rezitation des Titinius Capito darlegt. Die kurze Epist. 7,22,Plinius der JüngereEpist. 7.22 in der Minicianus als dritte Person erscheint, ist als Empfehlungsschreiben gehalten. Im Folgenden sei die Charakterisierung des Minicianus in dieser Briefserie und seine Funktion im Rahmen der literarischen Gestaltung der einzelnen Briefe betrachtet. Beginnen wir bei Epist. 7,22 an Pompeius Falco,18 wo wir konkretere Informationen über die Figur des Minicianus erhalten. Plinius, so erfahren wir hier, hatte bereits in einem früheren Brief an Falco um das Tribunat für einen Freund gebeten und verrät nun in diesem Schreiben, um wen es sich dabei handelt (1: quis ille qualisque). Cornelius Minicianus wird daraufhin folgendermaßen beschrieben (2):

       est Cornelius Minicianus ornamentum regionis meae seu dignitate seu moribus. natus splendide abundat facultatibus, amat studia, ut solent pauperes. idem rectissimus iudex, fortissimus advocatus, amicus fidelissimus.

      Wie Plinius stammt auch Minicianus aus der Transpadana, genauer gesagt aus Bergamum,19 und ehrt dem Epistolographen zufolge seine Heimat durch dignitas und mores. Zudem zeichne sich Minicianus durch eine angesehene Herkunft20 und sein Vermögen sowie die Liebe zu den Studien aus. Als Richter sei er äußerst gewissenhaft, als Anwalt sehr mutig, als Freund besonders zuverlässig – man könnte meinen, es handle sich hier um ein Spiegelbild des Plinius. Auffällig an dieser laudatio ist, dass Plinius keinerlei militärische Qualifikationen nennt, die für das angestrebte Amt relevant gewesen wären.21 Stattdessen streicht er allgemeine Charakterzüge heraus, die Minicianus für eine Führungsposition empfehlen. Minicianus sei, so betont Plinius am Ende des kurzen Briefes,Plinius der JüngereEpist. 7.22 allen Ehrungen und Auszeichnungen gewachsen (3: hominem omnibus honoribus, omnibus titulis…parem) und sei dennoch ein äußerst bescheidener Mann (3: de modestissimo viro).Plinius der JüngereEpist. 7.22

      Über diese Wesenszüge des Minicianus und die Tatsache, dass er offenbar jünger ist als Plinius,22 weiß der Leser noch nichts, wenn er ihm zum ersten Mal in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 begegnet, wo Plinius einen umfangreichen Bericht über den Repetundenprozess der Provinz Baetica gegen Caecilius Classicus an ihn adressiert.23 Der Epistolograph verzichtet hier auf eine längere Einleitung, die sein Verhältnis zum Adressaten in irgendeiner Weise näher beleuchtet, und beginnt gleich mit der Narration über den Fall (1: possum iam perscribere tibi, quantum in publica provinciae Baeticae causa laboris exhauserim). Im weiteren Verlauf dieser