Die Entwicklungen im Feld der systemischen Ansätze seit Mitte der 1980er-Jahre haben schon viele dieser für mich problematischen Annahmen und Haltungen relativiert oder aufgelöst. Immer deutlicher wurde uns, gerade auch durch viele Reaktionen von Klienten, dass wir die Bedeutung, die sie unseren Angeboten gaben, mehr berücksichtigen mussten. Manchmal reagierten Klienten und ihre Familien recht irritiert und mit Widerstand darauf, wenn wir von Anfang der Zusammenarbeit an zügig viele Fragen zu ihrem Familiensystem stellten. Dies machte uns immer klarer, dass wir unsere eigenen Angebote kritischer beleuchten mussten. Die Idee, eine Familientherapie zu machen, war z. B. in vielen Familien durchaus umstritten. Wenn wir dann von Beginn an familientherapeutisch vorgingen, wirkte sich das aus, als ob wir Partei für die Mitglieder ergreifen würden, die für Familientherapie waren, und damit aber auch parteiisch gegen andere in der Familie würden. Dies führte eher zu mehr Konflikten in der Familie, unsere Beiträge veränderten also die familiäre Dynamik. Die Annahme, dass wir durch unsere Fragen herausarbeiten könnten, „wie die Familie ist“, erwies sich als völliger Trugschluss. So wurde immer deutlicher, dass wir niemals herausfinden konnten, „wie die Familie ist“. Indem wir ihnen begegneten und auch durch die Art, wie wir ihnen begegneten, trugen wir unentrinnbar zu Veränderungen bei, sodass die Familie, die wir sahen, niemals die gleiche Familie war, die sich bei sich zu Hause organisierte. Wir als „Beobachter“ des Systems bewirkten Veränderungen des zu beobachtenden Systems durch unsere Beobachtungen. Die Theorie des Beobachters oder die Kybernetik der Kybernetik (Kybernetik 2. Ordnung) wurde zentrale Basis unserer Arbeit (von Foerster 1981, 1993; Schiepek 1991; Tomm 1994). Familiendiagnosen und Systemdiagnosen generell erschienen nun als immer zweifelhafter, denn der diagnostische Prozess veränderte ja schon an sich wieder das, was man diagnostizieren wollte. Wir legten nun viel mehr Wert darauf, mit den Familien achtungsvoll ihre Ansichten dazu ernst zu nehmen, ob Therapie überhaupt sinnvoll sei, und auch dazu, was eventuell dort besprochen, was aber auch nicht besprochen werden sollte. Ein wichtiger Teil der Arbeit wurde es, mit den Familien zusammen die Therapiekooperation gemeinsam auszuhandeln und zu planen.
Dabei stellte es sich z. B. oft heraus, dass es für die Familien viel hilfreicher war und unsere Kooperation viel konstruktiver wurde, wenn wir unsere Angebote nicht mehr „Familientherapie“ nannten, ja oft sogar gar nicht mehr „Therapie“, sondern mit den Betroffenen für sie passendere Etikettierungen entwickelten. Wir erkannten es also als relevanter an, die autonomen Weltmodelle der Betroffenen zu beachten.
Definition „Therapie“ und „Beratung“
Ich verwende deshalb in diesem Buch auch immer die Begriffe „Therapie“ und „Beratung“ nebeneinander. Die jeweiligen Bezeichnungen für eine entsprechende Kooperation stellen aus systemischkonstruktivistischer Sicht immer nur Realitätskonstruktionen dar, keine Wahrheiten. Es ergibt deshalb auch keinen Sinn, sie genau abgrenzen zu wollen mit Beschreibungen aus sich selbst heraus (z. B. „Im Gegensatz zu Beratung ist Therapie …“). Geprüft werden sollte immer, welche Etikettierung („Therapie“, „Beratung“, „Coaching“, „begleitende Supervision“, „unterstützende Familiengespräche“ oder was auch immer) die Kooperation optimal unterstützen würde. Die Begriffe sind also zieldienlich zu gebrauchen. Deshalb werde ich in dieser Einführung der Einfachheit halber nur noch von „Therapeuten“ und „Therapeutinnen“ reden.
Der Begriff „Therapie“ z. B. müsste dann aber, wie die hier ausführlich zu diskutierenden Ideen der Aufmerksamkeitsfokussierung zeigen, jeweils sehr kritisch behandelt werden. Denn üblicherweise assoziieren die meisten Menschen in unserer Kultur damit auch, dass jemand, der in Therapie geht, irgendwie durch Defizite oder Pathologie gekennzeichnet ist. Dies stellt aus der hier vertretenen Sicht natürlich keine Wahrheit, wohl aber eine sehr wirksame Realitätskonstruktion dar, die solche Realitäten mit schafft, welche sie dann wieder auflösen will.
Bei der jeweiligen Begriffswahl sind natürlich auch wichtige Kontextfaktoren zu beachten; soll z. B. die Krankenkasse eine jeweilige Kooperation als bezahlungspflichtig akzeptieren, muss sie „Psychotherapie“ genannt werden, und deren Kontraktbedingungen sind zu beachten. Die möglicherweise inhaltlich gleichen Interaktionen der Kooperationspartner würden in einem beruflichen Kontext vielleicht eher als „Coaching“ bezeichnet. Gemeint ist hier in allen Fällen, mit denen wir uns beschäftigen, die Kooperation zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern (unter Berücksichtigung der für beide Seiten relevanten Kontextbedingungen). Diese sollte sich orientieren an den Aufträgen und Zielvorstellungen, welche die Auftraggeber einbringen, aber auch andere eventuell wichtige Auftraggeber (wie z. B. Gesetzgeber, Rentenversicherer) und ihre Ziele müssen beachtet werden, ebenso die eigenen ethischen Werte der Therapeuten. Dann sollte mit den direkten Auftraggebern differenziert ausgehandelt werden, welche Ziele und Schritte dahin in einer Kooperation sinnvoll sein könnten. Zentral dabei sollte sein, dass man sich gemeinsam nur an Zielen orientiert, die mit der erlebbaren Eigenkompetenz der Beteiligten realisierbar sind (sonst trägt die Kooperation zum Erleben von Insuffizienz und Versagen bei). Jeder Schritt in dieser Kooperation sollte wieder auf seine Wechselwirkungen hin mit allen von den direkt Beteiligten als relevant angesehenen Kontextfaktoren geprüft werden, und von dort aus sollten wieder die nächsten Schritte gemeinsam abgestimmt werden.
Auch die immer einflussreicher werdenden Konzepte der Autopoiese (Maturana 1982; Maturana u. Varela 1987) verstärkten die beschriebenen Haltungsänderungen intensiv. Die Erkenntnisse aus der biologischen Erforschung von Wahrnehmungsprozessen und der Selbstorganisation lebender Systeme zeigen, dass lebende Systeme ihre Wahrnehmung als innere, autonom selbst organisierte Prozesse gestalten, also von außen zu keinem Erleben gezwungen werden können. Ebenso machen sie deutlich, dass jede Beschreibung, die z. B. ein Mensch macht, nicht abbildet, wie es „da draußen wirklich ist“, sondern seine Entwürfe des „da draußen“ abbildet. („Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“) Auch dies weist auf die Problematik von Diagnosen hin, die besonders dann keinen Sinn mehr haben, wenn sie behaupten, sie würden beschreiben, wie das Beobachtete „ist“. Sie beschreiben vielmehr die Prozesse des Beobachters.
Eine weitere wichtige Konsequenz der Autopoiesekonzepte war für uns, dass die Vorstellungen der frühen systemischen Arbeit, nämlich dass der Kontext so zentral sei, dass er praktisch das Erleben der Beteiligten darin bestimme, deutlich relativiert werden mussten. Wenn es keine „instruktiven Interaktionen“ gibt (also Interaktionen, die Beteiligte zu einem bestimmten Erleben oder Verhalten zwingen können), ist der Kontext als einladende Umwelt zwar wichtig, aber es bleibt viel Raum für die autonome Antwort des Individuums darauf. Die Autopoiese brachte also das Individuum wieder viel mehr in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Folgerichtig wurden unsere Angebote wieder viel flexibler, es musste nicht mehr die ganze Familie kommen, systemisch orientierte Einzeltherapie wurde ein immer häufiger als sehr sinnvoll angesehenes Instrument. In dieser Phase unserer Arbeit – und aus meiner Sicht ist das bis heute in vielen Anwendungsfeldern systemischer Arbeit so – wurden zentrale Implikationen der Autopoiesetheorie nicht genügend genutzt, z. B. die systematische Betrachtung und Beeinflussung der autopoietisch produzierten Wahrnehmungsprozesse (sowohl der zu Problemen beitragenden als auch der lösungsförderlichen). Diese Implikationen konsequent zu beachten und daraus Interventionshilfen herzuleiten stellt sich, wie ich weiter unten zeigen will, der hypnosystemische Ansatz als eine zentrale Aufgabe.
Ebenfalls sehr hilfreich war dafür z. B. die Idee des „problemdeterminierten Systems“ (Anderson a. Goolishian 1988). Die Goolishian-Gruppe schlug damit vor, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen nicht mehr als Hinweis auf grundsätzliche Dysfunktionalitäten der Familien anzusehen. Vielmehr könne man auch sagen, dass Phänomene, die später „Problem“ genannt werden, einfach auftreten können, manchmal vielleicht sogar durch Zufall (oder durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen, die etwa zu einem Unfall führen, etc.). Als Reaktion darauf bilden sich dann Interaktionen um das Phänomen herum, es werden Kommunikationsakte gebildet, die das Phänomen sogar zu lösen versuchen, aber (sogar ungewollt) bewirken, dass das Phänomen aufrechterhalten oder gar verstärkt wird. So gesehen, bildet sich quasi um das Problemphänomen herum ein System (System hier verstanden als Geflecht von Wechselwirkungen in Beziehungen, nicht unbedingt als die Familie), redundante Muster führen