Eine typische Stressreaktion: Großhirn ade!
Typische Stressreaktionen
Vielleicht erinnern Sie sich noch an das letzte Mal, als Sie selbst unter starkem Stress standen. Damit meine ich nicht den üblichen Zeitdruck, den die meisten von uns im Alltag mittlerweile fast ständig empfinden und der uns abends beim Bier über »Stress« klagen lässt. Ich meine vielmehr eine Situation, die Sie als wirklich bedrohlich, vielleicht sogar als Angst einflößend erlebt haben – eine heftige Attacke in einem wichtigen Meeting mit dem Vorstand; ein Zusammenbruch des Servers, der Ihnen den gesamten Geschäftsbetrieb lahmlegt; die Nachricht, dass Ihr größter Kunde insolvent ist. Wahrscheinlich wurde Ihnen heiß, Ihr Puls beschleunigte sich, der Herzschlag dröhnte in den Ohren. Sie hatten möglicherweise das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Waren Sie wie gelähmt? Vielleicht hatten Sie einen Blackout. Gerade dann, wenn wir sie am nötigsten brauchen, scheint uns die Ratio besonders gerne im Stich zu lassen.
Stammhirn versus Großhirn
In akuten Stresssituationen übernimmt das Stammhirn die Regie. Das ist der Bereich unseres Gehirns, in dem die Vitalfunktionen und Grundemotionen lokalisiert sind. Das Stammhirn wird manchmal auch als »Reptiliengehirn« bezeichnet. In dieser evolutionär gesehen ältesten Gehirnregion sind archaische Reaktionsmuster gespeichert – es geht darum, das nackte Überleben zu sichern. Die Möglichkeiten dafür sind überschaubar: angreifen, abhauen oder tot stellen. Das sind exakt die drei Optionen, die schon dem Urmenschen zur Verfügung standen, wenn er auf einen Säbelzahntiger traf. Das Großhirn, das für das Denken, Analysieren und Planen zuständig ist, wird bei akutem Stress weitgehend außer Kraft gesetzt. »Wenn das Stammhirn kommt, geht das Großhirn in die Bar einen trinken«, sage ich in meinen Seminaren gerne scherzhaft. Und sobald das Großhirn Pause macht, kann man schon mal Dinge übersehen, die man sonst niemals versäumen würde, wie etwa das Ausfahren der Klappen oder die Kontrolle einer Millionenüberweisung.
Wenn sich der Fokus verschiebt
Rüdiger Trimpop, Professor für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie an der Universität Jena und einer der renommiertesten deutschen Unfallforscher, liefert dafür eindrucksvolle Beispiele: »Aus der Stress- und Unfallforschung ist bekannt, dass Menschen in Entscheidungssituationen unter Zeitdruck eine Tunnelsicht entwickeln«, erläutert er. Trimpop berichtet von Fluglotsen, die in einer simulierten stressigen Arbeitssituation (Ausfall von Monitoren, brüllender Chef, Störgeräusche aus den Lautsprechern) zwar das Flugzeug, für das sie zuständig waren, sicher zum Boden dirigierten, die aber gleichzeitig eine Kollision zweier anderer Maschinen auf ihrem Schirm glatt übersahen. »Die gesamte Energie, die gesamte Aufmerksamkeit ist auf die eine Aufgabe konzentriert, alles andere wird ausgeblendet. Und je komplexer eine Handlung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, sich auf das falsche Thema zu fokussieren«, so Trimpop. Das gilt nicht nur für Fluglotsen: Autofahrer beispielsweise übersehen einen Radfahrer, der ihnen in der Einbahnstraße entgegenkommt, wenn man sie unter Stress setzt. Der Rat des Unfallforschers: »Es geht darum, sich davor zu schützen, nur als Reflex-Amöbe zu reagieren«.1
Kontrollierter Stress
Solange wir noch die Hoffnung haben, eine herausfordernde Situation in den Griff zu bekommen, bleibt eine Stressreaktion kontrollierbar: Das Gehirn wird durch irritierende Signale in Alarmbereitschaft versetzt, die Nebennieren schütten Adrenalin ins Blut aus, das Herz beginnt, schneller zu schlagen, wir sind angespannt und mobilisieren all unsere Energie. Möglicherweise haben Sie sich in der letzten Prüfung, die Sie absolvieren mussten, so gefühlt. Sobald Sie aber die ersten Aufgaben gelöst, die ersten Fragen beantwortet hatten, entspannte sich die Situation wieder.
Unkontrollierter Stress
Was dagegen in unserem Körper passiert, wenn wir mit einer unkontrollierbaren Stressreaktion kämpfen, beschreibt der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther ebenso eindrucksvoll wie bildhaft: »Dann, wenn alle Wege blockiert oder verbaut sind, gehen zusätzlich zu den Alarmglocken noch die Sirenen an … der Angstschweiß tropft uns von der Stirn. In unserem Gehirn ist der Teufel los, alles geht durcheinander.« In der Folge wird von der Hirnanhangdrüse ein Hormon ausgeschüttet, das wiederum die Nebennieren veranlasst, große Mengen des Stresshormons Kortisol auszuschütten. »Aus der anfänglichen Angst wird Verzweiflung, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Die im Körper ablaufende Stressreaktion ist nicht mehr aufzuhalten … Vergeblich suchen wir noch immer nach einer Lösung oder warten darauf, dass ein Wunder geschieht und alles wieder so wird, wie es vorher war.« In der Folge machen sich Resignation, Mutlosigkeit, »ein Gefühl gleichzeitiger Unruhe und Lähmung« breit.2 Ein Zustand, in dem wir weder Prüfungen bestehen noch Flugzeuge fliegen oder ein Unternehmen sicher führen können.
Stress im Unternehmen
Stress ist relativ
Was als stressig empfunden wird, variiert von Mensch zu Mensch. Nicht immer liegt der Fall so eindeutig wie beim Säbelzahntiger. Wesentlich ist das Gefühl von Kontrollverlust, von Überforderung. Reize, die plötzlich auftreten, solche, die als bedrohlich empfunden werden, oder solche, die unbekannt sind, erzeugen Stress. Wenn Ihnen spätabends auf dem Nachhauseweg in einer dunklen Seitengasse plötzlich jemand in den Weg springt, wenn Ihr eben noch friedlicher Gesprächspartner sich plötzlich die Ärmel hochkrempelt und Sie dabei wütend fixiert oder wenn Sie als Sportmuffel im Managementseminar unverhofft im Kletterwald in luftiger Höhe herumturnen sollen, empfinden Sie sehr wahrscheinlich Stress. Ein Kollege hingegen, der begeisterter Freeclimber ist, wird der Übung im Kletterwald recht gelassen entgegensehen, und Vladimir Klitschko wird die Situation in der dunklen Gasse wahrscheinlich anders wahrnehmen als Mutter Beimer.
Mit Übung den Stress kontrollieren
»Stressig« ist also nicht eine Situation an sich, sondern die Bewertung der Situation durch den Einzelnen. In vielen Fällen werden Menschen sich in dieser Bewertung einig sein (Säbelzahntiger und andere ernst zu nehmende Angreifer etwa), in anderen hängt die Wahrnehmung der Situation von Vorerfahrung und Übung ab. Denken Sie beispielsweise an Ihre erste praktische Fahrstunde: Für viele Menschen waren das extrem stressige 60 Minuten, nach denen sie mit steifem Nacken und völlig erschöpft aus dem Wagen gestiegen sind. Heute können sie darüber nur noch lächeln. Die damals unbekannte Situation ist längst zur Routine geworden. Übung und Training kann also helfen, eine Stresssituation als kontrollierbar zu erleben und damit zu bewältigen. Nicht ohne Grund trainieren Piloten gefährliche Situationen immer wieder im Flugsimulator. Das lässt hoffen: Auf alle heiklen Momente, die vorstellbar oder vorhersehbar sind, kann man hintrainieren. Und dieses Training verhindert (mit ein bisschen Glück), dass das Großhirn im Falle eines Falles einen Ausflug macht.
Stressoren-Typen
Vielleicht fragen Sie sich inzwischen, was Säbelzahntiger, Klettergärten oder angriffslustige Fremde in dunklen Gassen mit Ihrem Managementalltag zu tun haben sollen. Natürlich ist die Gefahr, im Büroflur einem Raubtier zu begegnen, vergleichsweise gering. Die Stressoren in den Unternehmen sind anderer Natur, aber nicht weniger wirksam. In der Stressforschung ist man sich heute einig, dass neben »objektiven Stressoren« (wie Hitze, Kälte, Lärm, Schlafentzug, Verletzungen oder akute Gefahr) auch »subjektive« Stressoren eine starke Wirkung entfalten. Solche subjektiven Stressoren sind zum Beispiel Sorgen, ausgelöst durch eine negative Grundhaltung, oder ein stark empfundener Leistungsdruck als Folge von Perfektionismus. Dasselbe gilt für »soziale Stressoren«. »Ähnliche Konsequenzen wie Stress und Zeitdruck könnten emotionale Konflikte,