Funktion der Landeklappen
Um den Spanair-Unfall zu verstehen, muss man wissen, wie ein Flugzeug funktioniert. Vielleicht haben Sie schon einmal beobachtet, wie eine Maschine bei Start oder Landung die Landeklappen ausfährt. Diese Klappen vergrößern die Oberfläche des Flügels und erhöhen dadurch den Auftrieb, der das Flugzeug abheben lässt. Der Auftrieb resultiert letztlich aus zwei Komponenten, nämlich der Oberfläche des Flügels und der Geschwindigkeit der Luft, die den Flügel umströmt. Bei Start und Landung ist das Flugzeug naturgemäß langsamer, und deshalb braucht man die Klappen. Ohne Klappen fliegt der Flieger einfach nicht. Jeder Pilot weiß das, und das »Klappenfahren« ist eine selbstverständliche Routineangelegenheit.
Gründe für einen Startabbruch
Was genau ist damals passiert? Die Crew hatte bereits zwei Startabbrüche hinter sich. Einen Startabbruch können Sie sich so vorstellen: Das Flugzeug steht auf der Piste. Die Motoren drehen hoch, und die Maschine beschleunigt mit Vollgas. Im Cockpit werden währenddessen verschiedene Parameter überprüft. Bestimmte Werte müssen angezeigt werden. Aber es leuchten auch verschiedene Lämpchen auf. Jedes dieser Lämpchen zeigt an, dass das dahinterliegende System einsatzbereit ist. Passt einer dieser Werte nicht oder leuchtet ein Lämpchen nicht rechtzeitig auf, muss der Start abgebrochen werden. In fast allen Fällen hätte der Flug dennoch problemlos durchgeführt werden können, da wirklich nur ein Lämpchen kaputt war. Der Startabbruch ist also normalerweise nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nur, von alledem wissen Sie hinten im Passagierraum nichts. Sie merken nur, dass das Flugzeug stark beschleunigt und dann eine Vollbremsung macht und dass es Sie fast aus dem Sitz hebt.
Weitere Hindernisse
Unsere Crew hatte schon zwei Starts wegen blinden Alarms abbrechen müssen. Sie können sich vorstellen, dass die Passagiere inzwischen nicht mehr wirklich entspannt waren. Eine solche Situation wird verschärft durch weitere Faktoren wie »Slots« oder Ruhezeiten der Besatzungen. Ein Slot ist ein Zeitfenster, in dem man zum Beispiel gestartet sein muss. Klappt das nicht, muss ein neuer Slot beantragt werden. Wenn man Pech hat, wartet man dann mehrere Stunden. Aber auch die vorgeschriebenen Ruhezeiten spielen eine Rolle. Die maximalen Dienstzeiten einer Besatzung sind strikt begrenzt. Kann ein Flug etwa wegen einer Verspätung oder verpasster Slots nicht innerhalb der maximalen Dienstzeit zu Ende gebracht werden, muss man für eine neue Besatzung sorgen. Dass das schwierig ist, wenn Sie irgendwo auf der Welt auf einem Flugfeld stehen, können Sie sich sicherlich vorstellen.
Eine brenzlige Situation
Langsam braute sich daher ein explosiver Cocktail zusammen: zwei Fehlversuche; der nächste muss klappen, 162 Passagiere, die langsam rebellisch werden, extremer Zeitdruck, extremer Erfolgsdruck, jede Menge externer Faktoren, die den Druck ins Unermessliche steigen lassen – Stress. All das führte dazu, dass ein unsäglicher Leichtsinnsfehler passierte und die Piloten die Klappen nicht ausgefahren haben. Hätte das Alarmsystem funktioniert, hätte ein Warnton sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht und die Maschine wäre sicher gestartet. Das war aber nicht der Fall. Und auch auf das Abarbeiten der für den Start vorgesehenen Checkliste – das Ausführen sogenannter »Standard Operating Procedures« (SOPs) hatte die Crew leichtsinnig verzichtet.
CRASH-WARNUNG
Ab einem bestimmten Stressniveau unterliegt das Verhalten nicht mehr der rationalen Kontrolle. Es wird reflexartig, unreflektiert und unüberlegt, dafür aber schnell und hektisch.
Ein Unternehmensbeispiel: KfW – eine Bank verschenkt 320 Millionen
Wie schon gesagt: Jeder von uns hat in seinem Leben schon erstaunliche Fehlleistungen vollbracht. Doch was muss passieren, damit ein ganzes Unternehmen »den Kopf« verliert? Was muss passieren, damit eine deutsche Staatsbank wie die KfW 320 Millionen Euro auf Nimmerwiedersehen an ein Pleiteunternehmen überweist? Und was muss passieren, damit ein mittelständisches Unternehmen völlig überhastete und unverhältnismäßige Entscheidungen trifft?
KfW: Pleiten, Pech und Pannen
Die Geschichte der KfW ist bekannt, sie löste im September 2008 einen Sturm der Entrüstung aus: Obwohl die Krise bei der US-Investmentbank Lehman Brothers selbst Gelegenheitszeitungslesern bekannt ist, überweist die KfW noch am 15.09.2008 über 300 Millionen Euro an das insolvente Unternehmen. Niemand hatte die automatische Anweisung des Geldes rechtzeitig gestoppt. Ob wir als Steuerzahler davon jemals etwas wiedersehen würden, war lange Zeit sehr fraglich. Im Dezember 2009 wurde bekannt, dass die KfW 200 Millionen Euro zurückerhält und der Steuerzahler 120 Millionen zahlen muss. Zur Erinnerung: Die KfW stand zu dem Zeitpunkt, als es zu dieser fatalen Überweisung kam, schon seit Monaten in der Kritik, vor allem wegen des Debakels bei der hoch verschuldeten IKB-Bank, an der die KfW mit 43 Prozent beteiligt war. Die KfW musste der IKB mehrfach unter die Arme greifen und wies im Geschäftsjahr 2007 einen Verlust von 6,2 Milliarden Euro auf, den größten Verlust in ihrer Firmengeschichte. Die Vorstandsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier musste erst als Sprecherin der Bank gehen und dann schließlich ganz zurücktreten. Der neue Vorstand Ulrich Schröder war bei der Überweisungspanne erst zwei Wochen im Amt. Man kann sich vorstellen, dass die ehrwürdige KfW in dieser Situation eher einem aufgescheuchten Hühnerhof glich als einer geordneten Institution. Der enorme Druck der Öffentlichkeit, der neue Vorstand, vermutlich die Sorge um Posten und Pöstchen auf allen Ebenen – eigentlich kein Wunder, dass trotz eines Meetings am Freitag vor dem verheerenden »Unfall« am Montag die wirklich entscheidende Entscheidung nicht getroffen wurde: Niemand stoppte die Überweisung.
Stressbedingte Fehlentscheidungen überall
Solche Pannen sind nicht auf größere Unternehmen oder bestimmte Branchen beschränkt. Für Verlage ist die Frankfurter Buchmesse der wichtigste Event des Jahres. Ein bekannter Verlag war so mit den Vorbereitungen für diese Messe beschäftigt, dass man die Standbuchung in der Hektik völlig vergaß! Zahlreiche Aktionen waren penibel vorgeplant, nur der Stand dafür fehlte. Und die Wiesbadener SPD versäumte es um die Jahreswende 2007, ihren Oberbürgermeisterkandidaten zur Wahl zu nominieren. Das kam erst dann heraus, als der Kandidat und Stadtdekan seine Anstellung bei der Kirche schon gekündigt hatte und der Wahlkampf bereits anlief. Wir haben in der entscheidenden KfW-Sitzung am Freitag nicht unterm Konferenztisch gesessen und mitgehört, genauso wenig, wie wir den Wiesbadener SPD-Wahlkampf begleitet haben. Aber finden Sie nicht auch, dass beide Debakel fatal an das vergessene Klappenfahren der Spanair-Piloten erinnern? In allen drei Fällen standen die Beteiligten unter starkem Stress.
Stress und die Folgen
Der Mensch: das vernunftbegabte Wesen
Warum kann sich Stress so verheerend auswirken? Warum treffen »eigentlich« besonnene und kompetente Menschen eklatante Fehlentscheidungen, vergessen das Nächstliegende? Warum übersehen wir Dinge, die wir unter normalen Umständen nie übersehen würden? Fragen wie diese drängen sich auf, weil »menschliches Versagen« dem Selbstbild widerspricht, das wir im Alltag gerne pflegen: Wir sehen uns normalerweise als rationale Wesen, die »vernünftig« auf ihre Umwelt reagieren, diese logisch analysieren und »zuverlässig« einschätzen. »Homo sapiens« ist schließlich der Mensch als vernunftbegabtes Wesen. Im Unternehmenskontext, in der Welt der Macher und Manager, gilt diese Prämisse erst recht. Seit dem 18. Jahrhundert ist sie fest in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelt, im Verständnis der Aufklärung wird der Mensch durch seine Ratio bestimmt. »Ich denke, also bin ich«, sagte Descartes; Kant forderte den Einzelnen auf, den Weg der Aufklärung zu beschreiten und gab ihm dazu einen für ihn ungewöhnlich schlichten Rat: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«
Der Mensch: