Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Christian Morgenstern. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Morgenstern
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066118747
Скачать книгу
ich heute stürbe, glaube ich, alt genug geworden zu sein. Ich bin dann wenigstens alt genug geworden, um sterben zu können.

      Warum muß ich so unaufhörlich unter mir und anderen leiden! Meine Seele ist fortwährend das Spiel über sie hinziehender Schatten.

      24Für mich gibt es nur ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht einzubüßen: Fortwährende Kritik.

      Der alte oft erprobte Fluch: Mein Typus Weib bleibt mir ewig verborgen.

      Was will ich denn! Einen Kameraden, eine freie Seele, einen anmutigen Körper.

      In Rußland fände ich diese Gefährtin, in Italien — nein. In Deutschland, dem für mich doch allein zulässigen Lande — wo, wo, wo?

      Ihr wollt alle nur die Liebe zur Möglichkeit haben. Ich habe nur die Liebe zur Unmöglichkeit.

      Kritik, Kritik, nimmer genug Kritik,

       ein Spiegel sei mir noch das letzte Tor.

      Wie die Nacht über einen Tod zieht, so zieht Vergessenheitsnacht allnächtlich über mein Gehirn. Ja, oft hat ein Tag so viele Tage und Nächte, wie bei andern wohl oft Wochen und Monate. Wenn mich jemand hypnotisierte, ich sei eine Mücke und hätte nur einen Tag zu leben, so glaube ich wohl, daß dieser Tag für mich ein ganzes Leben werden könnte.

      Ich habe soeben eine lange leidenschaftliche Epistel an meinen Ofen verfaßt und sie ihm dann gegeben. Er verschlang sie gierig und wärmte mir mit seinem Feuer zwei Minuten lang Gesicht und Hände. Gewiß, das war alles; aber es gibt Menschen, die nicht einmal wie ein Ofen zu antworten vermögen.

      25Ich ermangele ganz des Vermögens, mir nach einer Beschreibung — und wenn sie noch so genau ist — ein Zimmer oder eine Landschaft vorzustellen. Bühnenanweisungen gehen an mir meistens spurlos vorüber und Schilderungen etwa wie des Hauses der Buddenbrooks gehen nur mit einigen groben Zügen in mein Gehirn ein.

      Ich habe sehr sichere Instinkte, aber nicht die Gabe, eingehend zu begründen, zu erklären. Die Mehrzahl der Heutigen hat umgekehrt die Gabe des Begründens und Erklärens in hohem Maße, aber dafür keine innere Direktion. Es ist unendlich quälend, die Berechtigung seines Urteils immer wieder aufs neue beweisen zu sollen.

      Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fernes, fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmißt sie das Land nach allen Seiten. Und oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit, und man kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus gewöhnen. Aber so bald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von neuem fort, auf die einzige Fahrt, die ihrer Sehnsucht genügt, die unvermeidliche Suche nach dem Ort ihres Ursprungs.

      Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: ‚Und er entwich vor ihnen in die Wüste.‘

      Wie wenig meiner sicher bin ich doch noch. Mit welcher Leichtfertigkeit habe ich heute Abend über 26Menschen geredet: so daß ich nun nachts über mich erschrecke. (Ich werde mir doch das Armband ‚Denke daran‘ anlegen müssen.)

      Eines kann ich wohl als Merkwort über all mein Leben und seine Erfahrungen schreiben: Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich mir selber, einigen Privatpersonen und dem Zufall. Von irgendeiner bewußten organischen Kultur um mich herum, die das Einzelindividuum zu benutzen und systematisch auszubilden vermocht hätte, spürte ich nie etwas. Weder Eltern noch Lehrer noch irgendwer hat mich je kraftvoll in die Hand genommen und in großem Sinne erzogen. Und wenn ich, ein Mensch von ursprünglich glänzender Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben bin, so hat die Hälfte der Schuld daran gewiß die Unsumme von Dilettantismus, von Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden habe, wohin mich meine bewegte Jugend geführt hat. (Gelegentlich der herrlichen Schilderung der Krapotkinschen Jugend.)

      Es ist bitter, sich sagen zu müssen, daß man zwischen 35 und 45 zu erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen können.

      Ihr macht mir aus meiner gleichmäßigen Höflichkeit gegen alle einen Vorwurf. Aber, was wollt ihr! Es gibt gewiß nicht gar so viele, denen es leicht fällt, die Menschen zu lieben. Nun, mir fällt es zuweilen leicht: warum sollte ich da gewaltsam unfreundlich zu ihnen sein? Ich finde an jedem etwas, was mir 27Sympathie oder doch Interesse abnötigt; und würde nicht mein Gefühl vom Einssein mit allem eine Lüge sein, wenn ich irgendeinem Mitmenschen gegenüber völlig kalt bleiben könnte?

      Ich bin der leichterregbarste und unbeeinflußbarste Mensch, den ich kenne.

      Ist es ein Wunder, wenn dann und wann eine Nuance von Hochmut in einem auftaucht. Wenn man der offenbaren Niedertracht gegenüber zuweilen eisig wird — das Einzige, das ihr nicht zu Gebote steht. Die Menge weiß nichts von der Tiefe der Demut, die ein einzelner empfindet, der sich ganz zu erkennen strebt.

      Luther spricht einmal von ‚bösen Gedanken‘, deren Kommen man nicht hindern könne, aber die es gelte, vor der Schwelle bleiben zu lassen. Der Satz (dessen schöner kräftiger Wortlaut mir im Augenblick leider nicht gegenwärtig) ist mir oft im Leben ein Trost gewesen; denn ich habe von früh auf, d.h. wohl etwa von meinem 14. Jahr an, daran gelitten, daß in der Reihe meiner Assoziationen plötzlich zuweilen ein ‚häßlicher Gedanke‘, eine häßliche Vorstellung auftauchte, die ich sofort als solche erkannte, ohne indes die Macht zu besitzen, ihr auszuweichen, ja ihr Wiedererscheinen zu hindern.

      Es wäre vielleicht der richtige Augenblick, ein Tagebuch zu beginnen. Draußen regnet es ununterbrochen seit neun Stunden und bringt mir meine Einsamkeit erdrückend zum Bewußtsein. Heute Nachmittag durchfuhr 28es mich: wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können. Und ich bin krank, wenn ich es auch fortwährend wieder vergesse und mitten in meiner Krankheit Stunden, Tage, Wochen vollkommener Gesundheit durchlebe, Zeiten voll herrlichsten Blühens, in denen der Zerfall in mir gleichsam überblüht, hinweggesiegt wird von einem Frühling, der Herbst und Winter des Leibes nicht anerkennt, der die Ordnung der Natur vergewaltigt und, als unüberwindliche immer wieder auferstehende Lebenskraft mich über mich selbst hinwegretten zu wollen scheint. Aber dann kommt ein Spätnachmittag mit seiner gefährlichen Muße, dann kommt ein nasser, trübseliger Tag wie dieser, und mit dem Vergessen dessen, ‚was ist‘, ist es vorbei. Ich sehe ihn vor mir, meinen treusten Begleiter und Verfolger, den seltsamsten Kauz der Welt. Seine Beschäftigung besteht seit zehn, seit vierzehn Jahren darin, mich mit einer feinen Federpose in der Luftröhre zu reizen, gleich als wünschte er auf Erden nichts, als immer von neuem, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr meine Stimme zu hören, lediglich die Stimme, unartikuliert, tierisch, ohne Form, ohne Inhalt, wie er denn wohl auch selbst nur ein tierischer Geist sein mag, ein Gespenst ohne Hirn, nichts als fixe Idee von oben bis unten und ich sein einziges Ziel, sein einziger Lebenszweck.

      Es berührt mich eigentümlich, wenn meine Freunde künftige Pläne vor mir ausbreiten. Die einen denken sich ein kleines Haus für mich aus in ihrer Nachbarschaft, die andern wollen mich weiß Gott wohin haben. 29Vielleicht, vielleicht. Aber ich gebe mir höchstens noch zehn Jahre. Und diese zehn Jahre haben ihre Bestimmung, und die ist kaum: Nachbar zu werden und Besuchsreisen zu machen. Am meisten schmerzt mich, was ich von dichterischen Möglichkeiten alles fallen lassen muß. Zum Drama werde ich nie gelangen, ich habe von Natur nicht das Zeug dazu und mich auf Drama hinzudisziplinieren, dazu fehlt, wie gesagt, Zeit und dann auch Energie. Mein Widerwille nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes ‚Schreiben‘ ist allzu groß. Daran wird auch mein Roman scheitern. Ich bin Gelegenheitsdichter und nichts weiter.

      Ihr wollt meinen Platz wissen? Überall, wo gekämpft wird.

      Meine Methode, ein Wort durch den Gestus zu finden.

      Niemand war und ist mir eine empfindlichere Geißel als der richterlich geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein schlimmer Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und Kälte vernichtet werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als etwas Natürliches hinnehmen, aber sich bei lebendigem Leibe von einem andern lebenden