So enorm die Gravitationskräfte von Politik und Wirtschaft nach wie vor sein mögen, so sehr zeigt die aktuelle Krise auch, dass unsere vornehmlich politische und wirtschaftliche Beobachtungsneigung und die korrespondierende Blindheit für andere, angeblich weniger systemrelevante Funktionssysteme keine Notwendigkeit, sondern ein Problem darstellt. Damit ist nicht nur die Überbeobachtung der üblicherweise verdächtigen Funktionssysteme angesprochen, sondern auch der Hang, die Welt schwerpunktmäßig mit deren Augen zu sehen. So kommt es zu folgenschweren Verwechslungen, wie etwa im Fall der WHO, die Gesundheit als »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity« definiert. Der politische Blick hat Gesundheit kurzerhand in Wohlergehen und somit in einen allumfassenden wohlfahrtsstaatlichen Einflussbereich verwandelt.
Indem wir uns Runde um Runde um Staat und Markt drehen, reproduzieren wir Probleme, die wir auch reflektieren könnten. Daher mein Vorschlag, in Zukunft verstärkt die nicht-politischen und nichtökonomischen Augenmuskeln zu trainieren.
Gesundheit drängt sich da auf. Zum einen, weil wir hier aktuell den Ausgangspunkt der größten Krise der letzten Jahrzehnte vermuten. Zum anderen, weil in diesem System auch ein enormes Reservoir an Problemlösekompetenzen zu finden ist. Dabei ist neben lebenswissenschaftlicher Expertise auch an unser Wissen zur Therapie und Beratung von psychischen und sozialen Systemen zu denken.
In diesem Sinne erscheint die aktuelle Krise als Bewährungsprobe nicht nur für Virologie und Epidemiologie, sondern auch und gerade für Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese wissen um die kommunikative Konstruktion auch der Naturwissenschaften und lassen sich nicht auf die hilfswissenschaftliche Krisenreservebank schieben, sondern bringen ihr Wissen um kommunikative Pfadabhängigkeiten und »soziale Autoimmunerkrankungen« in Stellung.
Im Geheimen geht das Sexgeschäft weiter
Spiegel, 7. Mai 2020
Labor Deutschland. In der nächsten Phase der Krise könnte der Föderalismus nützlich sein. Oder besonders gefährlich
Die Zeit, 7. Mai 2020
For Workers, No Sign of »What Normal Is Going to Look Like«
New York Times, 8. Mai 2020
Coronahilfe aus dem ESM: Eurogruppe will Rettungsschirm rasch »scharf schalten«
FAZ, 8. Mai 2020
Spahn: Deutsches Gesundheitswesen hat Bewährungsprobe bestanden
Ärzte Zeitung, 8. Mai 2020
5Den Blick weiten
von Heiko Kleve
8. Mai 2020
Ich möchte den Vorschlag von Steffen Roth aufgreifen, dass wir uns aus der Fixierung unserer bisherigen Blicke auf Politik bzw. Staat und Wirtschaft lösen. Denn das Verhältnis dieser beiden Systeme lässt sich in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht passend beschreiben und erklären, wenn wir nicht zugleich konstatieren, dass es weitere Funktionssysteme mit ganz eigenen Beobachtungsperspektiven gibt. Diese Systeme werden möglicherweise nicht nur von uns, sondern im ganzen polit-ökonomisch überfrachteten medialen Diskurs übersehen und in ihren Eigenlogiken offenbar auch nicht verstanden.
Könnte es also sein, dass selbst das Gesundheitssystem und sogar das Wissenschaftssystem – zwei Systeme, die uns ja gerade täglich medial vorgeführt werden – von politischen und/oder wirtschaftlichen Perspektiven dominiert werden? Wäre es also denkbar, dass die aktuelle Krise noch mit überkommenen Problemlösungsstrategien bewältigt werden soll, also entweder mit Politik oder Wirtschaft, obwohl der Gesellschaft bereits viel mehr und weitaus differenziertere Möglichkeiten der Krisenbearbeitung zur Verfügung stehen? Wenn ja, welche Möglichkeiten wären das? Welche Rollen würden die unterschiedlichen Funktionssysteme hier spielen?
Um Antworten auf diese Fragen näherzukommen, möchte ich sowohl Fritz Simon als auch Steffen Roth zunächst bitten, ihr Bild der funktional differenzierten Gesellschaft knapp zu skizzieren. Um welche Funktionssysteme geht es hier? Was sind deren Aufgaben? Wie erkennen wir deren Wirken in der aktuellen Krise? Und wäre nicht sogar die Forderung plausibel, dass wir mehr funktionale Abgrenzung, mehr Differenz der Systeme voneinander benötigen als das, was wir in der Anfangsphase der Pandemie erlebt haben, das mediale Einschwingen auf den einen Konsens?
Hierarchie und Krise
von Fritz B. Simon
Wenn das Haus brennt, ist keine Zeit, in Muße die Pros und Kontras des Löschens zu diskutieren. Im Notfall (bzw. so beobachteten/bewerteten Situationen) erweist sich Hierarchie als funktionell, um die Handlungen der beteiligten Akteure ohne zeitraubenden Kommunikationsaufwand zu koordinieren.
Daher ist es nicht verwunderlich, wenn auch in der sogenannten Corona-Krise der Staat schnell und drastisch entscheidet. Alle anderen Funktionssysteme bzw. ihre Akteure ordnen sich ihm dabei, wie zu sehen ist, unter. Große Teile der Wirtschaft sind in ein künstliches Koma versetzt, die freie Ausübung der Religion ist eingeschränkt, der Kulturbetrieb auf Selbstdarstellung im Internet reduziert, Schulen sind geschlossen, die Wissenschaft ist nicht beeinträchtigt, soweit sie zwei Meter Abstand hält, einzig das Gesundheitssystem scheint zu florieren. Allerdings täuscht das, denn es sind lediglich Virologen und Epidemiologen, die zu Wort kommen, und über Macht verfügen auch sie nicht, da sie lediglich den Entscheidern in der Politik Argumente und Legitimationen für ihre Anordnungen liefern.
Diese Funktion des Staates wird von der Bevölkerung bislang akzeptiert, denn nur so lässt sich deuten, dass dessen Vorgaben weitgehend befolgt werden; gegen breiten Widerstand wären sie nicht durchzusetzen bzw. zu kontrollieren.
Wie von Organisationen, aber auch von Individuen, wird vom Staat in unbekannten Notfallsituationen auf bekannte Routinen zurückgegriffen. Die angeordneten Maßnahmen der Seuchenbekämpfung wurden schon bei den Pestepidemien im Mittelalter angewandt.
Obwohl die Funktionalität (und Intelligenz) hierarchischer Entscheidungsfindung auf Situationen beschränkt ist, in denen keine Zeit bleibt zur Reflexion und zum Aushandeln von Konflikten zwischen unterschiedlichen Sichtweisen, Beschreibungen, Bewertungen, Interessen usw., ist die Versuchung für Hierarchen groß, einmal eingeführte autoritäre Strukturen auf Dauer zu stellen (siehe Ungarn, China, …). Das ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko, denn es führt zur Verblödung des Staates.
Was diese Krise aber gezeigt hat, ist, dass Staaten in der Lage sind, auf eine Umweltkrise radikal zu reagieren. Denn die Bedrohung durch ein Virus, gegen das »der Mensch« noch keine Abwehrmechanismen entwickelt hat, stellt die Prämissen jedes Gesellschaftssystems infrage: den nicht-kranken menschlichen Organismus (= Kollektivsingular) als relevante Umwelt des öffentlichen Lebens. Doch die Akzeptanz solcher die Freiheiten einschränkender Maßnahmen ist daran gebunden, dass die Gefahr alle betrifft. Wenn differenziert werden kann, dann werden die vermeintlich Nicht-Gefährdeten, d. h. die Nicht-Diabetiker, die Jungen und die Mecklenburger, den Konsens aufkündigen … (erste Absetzbewegungen sehen wir gerade). Krankheit wird dann wieder als privates Problem definiert und durch das sogenannte Gesundheitssystem (als Reparaturbetrieb) individuell behandelt.