Das »Coronavirus« ist eine Lebensform, die man sich wie eine große, inzwischen über den Planeten verteilte Wolke vorstellen kann. Die Elemente der lebenden Wolke sind codierte Erbgutinformationen mit einer Fetthülle. Die einzelnen Virenpartikel sind stabil genug, um sich über Atemluft und berührte Oberflächen zu verbreiten. Sie verwenden die Zellen von Menschen, in die sie über deren Schleimhäute eindringen, zu ihrer Reproduktion, und Sars-CoV-2 ist dabei besonders erfolgreich. Dort, wo die Bedingungen günstig sind, wächst die Virus-Wolke binnen weniger Tage exponentiell. Je nach Vorzustand sterben 0,1–10 Prozent der Wirtsorganismen.
Während in den vergangenen vier Monaten diese virale Lebensform in die Körper der Menschheit gekrochen ist, hat die Weltgesellschaft auf ihre Weise reagiert – durch Kommunikation. Das Volumen der Kommunikation zu Aspekten des Befalls und seiner Abwehr, und zu den dadurch ausgelösten oder erwarteten Folgen, ist explosionsartig gewachsen. Das eine Thema beherrscht die Foren rund um den Planeten, Infektionsverläufe zwischen Ländern und Regionen werden verglichen, wissenschaftliche Befunde und alle anderen »Corona-Updates« werden über sämtliche Verbreitungsmedien binnen Stunden weltweit geteilt. Monatelang hat das Thema nun schon alle anderen Themen verdrängt, im öffentlichen ebenso wie in den meisten privaten Räumen. Die Ansichten darüber, was wichtig ist, haben sich durch die Bedrohung verschoben, und in der Verschiebung werden Konturen der Gesellschaft erkennbar, die sonst unbeobachtbar bleiben. Wie kann man nun, auf dem Fundament von Luhmanns Theorie sozialer Systeme, das Geschehen rekonstruieren, und welche Konsequenzen hat das für die Theorie? Ich will drei Beobachtungen hervorheben, die alle im bisherigen Verlauf der von Heiko Kleve angezettelten Diskussion bereits eine Rolle gespielt haben.
Die erste Beobachtung setzt bei den einfachsten sozialen Systemen an, bei den Interaktionen. Interaktionen werden als Gefahrenquelle erkannt, und die einzige Strategie gegen die Ausbreitung des Virus ist die der sozialen Distanz – vom Mindestabstand bis zur Quarantäne. Das betrifft vor allem Menschenansammlungen in Organisationen, von Schulen bis zu Kirchen, und öffentliche Versammlungen, von Fußballstadien bis zu Kirchenchören. Der Kommunikationspartner wird zur Gefahr. Nun sind in der Weltgesellschaft entlang grundlegender Problemlagen spezifische Kommunikationslogiken oder Sinnspiele entstanden, und darin haben sich wiederum Organisationsformen etabliert, die durch koordiniertes Verhalten der individuellen MitspielerInnen solche Probleme behandeln oder gar lösen können. Über kollektiv bindende Entscheidungen wird im politischen Funktionssystem kommuniziert, und Staatsorganisationen wird die sanktionsbewehrte Macht übertragen, die Anordnungen in den historisch gewachsenen Grenzen ihrer territorialen Anerkennung umzusetzen.
Die Aggression durch das Virus kam unvermutet, schnell und in Erwartung überforderter Krankenhäuser. Ganz ähnlich wie bei militärischer Intervention musste die Abwehr rasch und koordiniert erfolgen; dazu hat Fritz Simon vor allem in seinem jüngsten Beitrag das Wesentliche gesagt. Dabei sind Eigenschaften der modernen Staatsorganisation, ihre Territorialität und ihre interne hierarchische Struktur, deutlicher ans Licht gekommen. Was als »Flickenteppich« kritisiert wird, entspricht der Logik von Machtdurchsetzung, die immer irgendwo an die Grenzen konkurrierender Mächte stößt. Deshalb müssen Zwangsmaßnahmen auf staatsweiter, regionaler und lokaler Ebene verteilt werden, und sie müssen so kalibriert sein, dass der Widerstand im politischen Umfeld nicht so groß wird, dass er den konstruierten, fiktiven Geltungsanspruch der Staatsorgane bloßlegt. Die Corona-Verschiebung zeigt, wie stark die Durchsetzung eines weitgehenden Versammlungsverbots legitimiert sein kann, wenn das Ziel der Seuchenvermeidung im Vordergrund steht. Mit dem Grad der Gefährdung durch physische Interaktion verschiebt sich auch die Relation der Ansprüche zwischen den Akteuren – zumindest so lange, bis die Gefahr gebannt ist. Der Kampfbegriff der Enteignung, den Stefan Blankertz in Stellung bringt, wird der Relationalität des Geschehens kaum gerecht: Kein sozialer Anspruch ist absolut, jede Freiheit findet ihre Schranken an der Freiheit anderer. Wann der Zeitpunkt gekommen ist, um die Schranken aufzuheben, ist dann wieder Gegenstand des »Gerangels der Interessen«.
Auf die Verschiebung in den Relationen zwischen den Funktionssystemen richtet sich meine zweite Beobachtung. Die Disruption durch den Corona-Befall hat schon jetzt breite Spuren in der Kommunikation dieser so komplexen sozialen Systeme hinterlassen, und die werden beobachtbar an der Zunahme und Abnahme des Wertes (oder der Relevanz, der Bedeutung), der Organisationen und Personen aus den verschiedenen Sinnwelten in der Gesellschaft zugesprochen wird. In ruhigen Zeiten kommen sich die Akteure der verschiedenen Wertsphären (das ist Max Webers Formulierung) nicht sonderlich in die Quere, weil sie ihren Sinn ja aus der ständig neuen Bewältigung verschiedener Problemlagen ziehen. Das spezifische, schon jetzt historische Problem der Virus-Pandemie hat diese Ruhe gestört. Die gesellschaftliche Problembearbeitung zeigt, wie sich diese Berechtigungen verschieben, ohne dass deshalb gleich der Rückfall in eine vormoderne Über- und Unterordnung der Funktionssysteme diagnostiziert werden muss. Ich will zum Bedeutungszuwachs und -verlust der für mich erkennbaren Funktionssysteme kurze Anmerkungen machen.
Vom Bedeutungszuwachs staatlicher Organisationen, von der nationalen Regierung bis zu den lokalen Gesundheitsämtern, war schon die Rede. Der gestiegene Wert von straffer politischer Führung ist an den Zustimmungswerten der Blitzumfragen abzulesen. Damit einher geht eine abrupte Umverteilung von Machtbefugnissen innerhalb der Staaten, über deren zeitlich beschränkte Gültigkeit allerdings bereits diskutiert wird. Gesteigert ist auch der Wert von wissenschaftlicher Kommunikation. Nicht nur, dass ganze Bildungsschichten zu Amateurvirologen und herausragende Experten zu Volkshelden werden, auch darüber hinaus finden plötzlich Erörterungen über wissenschaftliche Verfahren der Hypothesenüberprüfung breites Gehör. Sogar Kultursoziologen, Verhaltensökonomen und Psychologen werden aufgefordert, ihre fachspezifischen Interpretationen beizutragen, und in Wissenschaftsverbänden macht man sich schon Gedanken darüber, wie ein Teil der Fördergelder, die über die virologische, immunologische und pharmazeutische Forschung hereinbrechen werden, in andere Wissenschaftsfelder geschleust werden können. Auch die Organisationen des Rechts werden an Bedeutung gewinnen, wenn die jetzt verlorenen Ansprüche als konkurrierendes Rechtsgut eingeklagt und dann durch Richterspruch dem staatlichen Zugriff stärker entzogen oder aber geöffnet werden.
Für die Wertsphären von Familie und Religion ist die Einschätzung weniger klar. Erst einmal hat die Verschiebung hin zu ganztägigen Interaktionen im Intimbeziehungsverbund der Kernfamilie die Leistungsfähigkeit dieser Form des Zusammenlebens strapaziert. Im unfreiwilligen Selbstversuch werden aber auch die Potenziale einer affektgesteuerten Problembewältigung erkannt, die nicht auf professionelle Leistungsanbieter aus den anderen Sinnwelten angewiesen ist. Dazu hat Fritz Simon sicher noch mehr zu sagen. Was Religion angeht, so haben die verschiedenen Glaubensgemeinschaften gemerkt, wie stark die Sinnbindung ihrer Mitglieder von deren physischer Versammlung abhängt. Auch wenn die Fernsehübertragung der Papstmessen in Italien zur Zeit Quotenrekorde bricht, so wird doch an der jüngsten Seuche deutlich, wie stark religiöse Narrative über die vergangenen Jahrhunderte an Erklärungskraft verloren haben.
Die stärksten Wertverluste treffen Organisationen und Personen in Wirtschaft und Kunst. Die Wirtschaft wird durch die Kernstrategie der Kontaktvermeidung massiv gestört. Dadurch zerreißen Lieferketten, und die VerbraucherInnen werden am Verbrauchen gehindert. Also bricht der Absatz nicht nur ein, sondern urplötzlich ab. Die Versorgungskommunikation ist aber stark auf Zeitlichkeit aufgebaut; die Güter von morgen werden heute mit Krediten bezahlt, die morgen zurückgezahlt werden. Der Wertschwund bei den Erwartungen kann etwa an den gesunkenen Aktienkursen, an der Zahl der Insolvenzen und der Arbeitslosen gemessen werden. Die geldpolitische Intervention vieler Staatsregierungen in das nationale Wirtschaftsgeschehen hat die Härte der Verbote erst erträglich gemacht. Die Technik besteht darin, durch das Zahlungsversprechen des Staates den Erwartungsverlust im Rest der Wirtschaft zu ersetzen. Das wird, abhängig vom schon vorher erreichten Schuldenstand, unterschiedlich gut gelingen.
So hart das Versammlungsverbot die Kultur- und Kreativindustrien getroffen hat, so erhellend ist der Vorgang doch für das theoretische Verständnis der »Kunst der Gesellschaft«. Kunstwerke schaffen fiktive Welten, die von Personen affektiv erlebt werden. Das Erlebnis der fiktiven Welt steigert seine affektive Kraft in der Interaktion, im Zusammenspiel von Aufführenden und Anwesenden. Das gilt sogar für die Literaturszene, in der SchriftstellerInnen ihr Einkommen durch Lesungen erzielen. Vom Versammlungsverbot sind sämtliche