Ein Herz für mich allein. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711718681
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ich etwa dümmer als du?«

      »Bestimmt nicht!« sagte Bettina impulsiv.

      »Na also. Da hast du’s. Gib selber zu, ich bin nicht dümmer und nicht fauler als du. Trotzdem hast du das bessere Zeugnis bekommen. Also … warum? Ja, guck mich nur so an mit deinem Unschuldsblick. Bei mir zieht der nicht. Damit hast du die Lehrer eingewickelt, aber …«

      Jetzt riß Bettina die Geduld. »Ursel!« sagte sie aufgebracht. »Wie kannst du so etwas behaupten! Das geht nun wirklich zu weit. Noch nie habe ich versucht, mich irgendwo lieb Kind zu machen … noch nie!«

      »Aber du bist es eben. Von Natur aus. Ich mache dir auch gar keinen Vorwurf. Ich sage dir nur klipp und klar … ich kann es nicht länger ertragen. Ich halte das einfach nicht mehr aus … immer und immer nur in deinem Schatten zu stehen. So, und nun weißt du Bescheid. Verschwinde und laß mich gefälligst in Ruh!«

      »Willst du etwa hier in diesem Kabuff bleiben?« fragte Bettina. »Was versprichst du dir davon?«

      »Hier habe ich wenigstens meine Ruhe! Niemand kann mich hier demütigen. Weiter will ich ja schon gar nichts mehr.«

      »Du wirst dir dein Kleid schmutzig machen, Ursel.«

      »Das ist mir egal!« behauptete Ursel, aber dennoch blickte sie unwillkürlich besorgt an dem Rock ihres blauseidenen Kleides herunter.

      »Du siehst so süß aus heute abend, wirklich! Bitte … bitte, komm doch mit zurück! Ohne dich ist es einfach langweilig!«

      »Für dich etwa? Daß ich nicht lache! Du amüsierst dich prächtig … auch ohne mich.«

      »Aber ich will mich nicht amüsieren, ohne daß du dabei bist, Ursel! Begreifst du das denn nicht? Glaubst du wirklich, ich könnte vergnügt sein … lachen und tanzen, wenn ich weiß, daß du hier in diesem stickigen Kämmerchen hockst? Für was hältst du mich eigentlich?«

      »Jedenfalls wird die Luft nicht besser, wenn du auch noch hier herumstehst!« sagte Ursel mürrisch.

      »Komm mit!« bat Bettina noch einmal.

      Ursel schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Ich habe genug.«

      Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Bettina sah den Trotz um Ursels Lippen, sah ihre verdüsterte Stirn und wußte, daß die Schwester sich zu sehr verbissen hatte, um von sich aus noch zurückzukönnen.

      »Glaubst du«, fragte Bettina ruhig, »wenn du heute abend allein gekommen wärst … glaubst du, daß es dann besser gewesen wäre?«

      »Was fragst du mich? Bin ich schon einmal ohne dich irgendwo gewesen? Kannst du dich an irgendeine Gelegenheit erinnern? Na, siehst du. Nie. Selbst im Kindergarten waren wir immer zusammen. Woher soll ich dann wissen, ob …«

      Bettina schnitt ihrer Schwester das Wort ab. »Na schön. Dann probiere es aus. Ich gebe dir dazu die Gelegenheit. Ich gehe jetzt nach Hause.«

      »Du? Aber warum? Du brauchst doch nicht …«

      Ehe Ursel ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war Bettina auf den Flur zurückgegangen, eilte mit raschen Schritten zur Garderobe. Sie ließ sich ihren Mantel geben und verließ dann fluchtartig das Café. Sie wollte nicht, daß Ursel sie einholte, sie wollte mit sich und ihren Gedanken allein sein.– –

      Als Bettina nach Hause kam, sah sie, daß im Wohnzimmer noch Licht brannte. Ein heller Strahl fiel durch die Spalte des nicht völlig geschlossenen Vorhanges in den Garten hinaus. Die Mutter war noch wach.

      Ganz leise und vorsichtig schloß Bettina die Haustür auf, schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, bei jedem Schritt ängstlich lauschend. Aber nichts rührte sich im Haus. Aufatmend öffnete sie die Tür des niedrigen, geräumigen Zimmers im Dachgeschoß, das sie mit der Schwester zusammen bewohnte. Rasch zog sie sich im Dunkeln aus, schlüpfte unter die Bettdecke. Sie war froh und erleichtert, daß die Mutter nichts von ihrem frühen Heimkommen gemerkt hatte. Sie hätte nicht gewußt, wie sie ihre Fragen hätte beantworten können. Sie begriff ja selber nicht ganz, was eigentlich geschehen war.

      Ursel war eifersüchtig auf sie, soviel stand fest. Aber warum nur? Warum? Weil ihr Zeugnis ein wenig besser ausgefallen war als das der Schwester? Weil mehr Jungen sie zum Tanz aufgefordert hatten als Ursel? Was bedeutete das schon? Nichts. Gar nichts. Unter all den Jungen war keiner, für den sich Bettina wirklich interessierte. Sie wußte, daß das bei Ursel genauso wenig der Fall war. Sie waren ja gleichaltrig wie sie selber, die meisten kannten sie von klein auf. Es war doch völlig gleichgültig, ob diese Jünglinge einen nett oder weniger nett fanden, ob sie gern oder weniger gern mit einem tanzten.

      Warum war Ursel so verzweifelt gewesen? Bettina verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Problem zu lösen. Es gelang ihr nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, daß der Fehler bei ihr liegen mußte, aber sie begriff nicht, was sie wirklich falsch machte. Sie wußte nur, daß sie Ursel von Herzen lieb hatte, und dennoch hatte aus der Stimme der Schwester beinahe Haß geklungen.

      Bettina schauderte zusammen, als sie daran dachte. Wenn sie nur einen Menschen gehabt hätte, mit dem sie darüber sprechen konnte. Aber es gab niemanden. Ihr Bruder Bernd war ein Flegel und hatte bestimmt kein Verständnis für ihre Probleme, Heiner war noch viel zu klein, und die Mutter – plötzlich wurde Bettina klar, daß die Mutter, solange sie denken konnte, immer auf Ursels Seite gestanden hatte. Nicht, als wenn Ursel Bettina wirklich vorgezogen worden wäre, aber Bettina schien es, als wenn die Schwester immer ein wenig liebevoller, ein wenig nachsichtiger, ein wenig zärtlicher behandelt worden wäre.

      Der Vater, ja, der Vater war immer gerecht gewesen. Ob er sie lieb hatte? Wenigstens er?

      Bettina konnte sich diese Frage nicht beantworten. Sie fühlte sich einsam, fast ausgestoßen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie übermüdet war, noch immer aufgeregt durch den Streit, verletzt durch Ursels Vorwürfe. Sie versuchte sich einzureden, daß jetzt in der Nacht alle Dinge anders und verzerrt aussahen. Aber dennoch krampfte sich ihr Herz zusammen vor Traurigkeit. Es war ihr, als wenn eine Zentnerlast auf ihre Brust drückte.

      Bettina lag noch wach, als die Zimmertür vorsichtig geöffnet wurde und Ursel hereinhuschte. Auch sie zog sich aus, ohne das Licht anzuknipsen. »Bettina«, rief sie leise, »schläfst du schon?«

      Bettina schwieg. Sie hörte, wie Ursel sich auf nackten Sohlen ihrem Bett näherte, schloß die Augen.

      Sie spürte den Atem ihrer Schwester an ihrer Wange. »Bist du mir noch böse?« fragte Ursel. »Du schläfst ja noch nicht … ich weiß, daß du noch nicht schläfst! Bitte, sag doch ein Wort!«

      Bettina öffnete die Lider nicht, bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen wie eine Schlafende. Ganz nahe an ihrem Ohr hörte sie die Stimme ihrer Schwester: »Bettina, ich war gräßlich zu dir! Es tut mir leid, wirklich! Bitte, verzeih mir!«

      Bettina hob die Arme, legte sie im Dunkeln zart um Ursels Hals, küßte die Schwester zärtlich auf beide Wangen. »Wir wollen uns nicht mehr zanken, Ursel, ja?« bat sie. »Es ist so dumm … und es tut so weh!«

      Wortlos schlüpfte Ursel zu Bettina ins Bett. Wange an Wange schliefen sie ein, Bettina mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen.

      In der Samstagausgabe des ›Westfälischen Anzeigers‹ gab es acht Seiten Stellenangebote. Bettina und Ursel rissen sich die Blätter gegenseitig aus der Hand.

      »Sieh dir das an, Mutti«, sagte Bernd mit vollem Mund, »wie die Hyänen!«

      »Bettina … Ursel!« mahnte Frau Bürger. »Legt die Zeitung aus der Hand! Sofort, wenn ich bitten darf! Nicht irgendwie, sondern wieder schön zusammengelegt … ja, so ist es gut. Ihr wißt genau, beim Frühstück wird nicht gelesen.«

      »Aber, Mutter«, versuchte Bettina zu erklären, »wir wollten doch bloß …«

      »Schließlich ist es furchtbar wichtig für uns, daß wir eine gute Lehrstelle finden«, fügte Ursel hinzu.

      »Aber das muß doch nicht in diesem Augenblick sein,