Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus. Ernst von Waldenfels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst von Waldenfels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9788711449530
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nach einem Spaziergang. »Sie sieht ganze Bilder in den Wolken und kann das so mitteilen, dass auch andere anfangen, dies zu sehen. Dank ihr sahen wir Schlösser und Berge und zwei breite Straßen, die in eine ferne Stadt führten, und eine große Figur mit einer scharfkantigen Mütze und danach zwei Sonnen.«10

      Möglicherweise ging Helenas »wunderbare Vorstellungskraft« mit einer Neigung zur Epilepsie oder einer anderen Art von psychischer Erkrankung einher. Aus einem Briefwechsel mit Nikolai Roerich weiß man, dass sie 1913 mehrere Wochen in einem Krankenhaus war, und aus ihrer Bemerkung, man habe ihr alle Haare abrasiert, lässt sich auf eine Operation am Kopf schließen. Auch gibt es Hinweise, dass die enge Beziehung der Roerichs mit Dr. Rjabinin nicht nur auf »ein gemeinsames Interesse an psychischen Phänomenen« zurückzuführen war, sondern auch auf eine Behandlung Helenas durch den bekannten Psychiater. Möglicherweise verhielt es sich mit Bechterew ähnlich.

      Sollte Helena Roerich tatsächlich unter Epilepsie oder irgendeiner anderen Form geistiger Krankheit gelitten haben, so beeinträchtigte dies jedenfalls nicht im Geringsten den Einfluss auf ihren Mann. Sina Lichtmann resümierte die Erzählungen Helena Roerichs über ihre Ehe mit den Worten: »... ohne seine Frau hätte es Roerich als größten Künstler und Menschen nicht gegeben.«11

      Man kann hinzufügen, ohne sie wäre Nikolai Roerich wahrscheinlich, wie so viele andere Emigranten, im Exil verzweifelt und auch nie nach Amerika gekommen. Für Nikolai Roerich bedeutete die Revolution den Verlust seines Ansehens, seiner Stellung, den Zusammenbruch seiner Welt. Für Helena Roerich war die »Revolution ein Feiertag. Denn«, so notierte Esther Lichtmann, »sie hatte sich trotz des Luxus und des Reichtums immer gefragt, was kommt jetzt?«12

      Und was kam, das waren Mahatma Morya und Mahatma Kut Humi.

      Kapitel 2

      Erste Offenbarungen

      Es war am 24. März 1920 in London am Eingang des Hyde Park, nicht weit von der Wohnung der Roerichs an den Queens Gate Terraces. An genau demselben Ort, an dem Kut Humi 1848 der 21-jährigen Blavatzky erschienen war, gaben sich die Mahatmas 72 Jahre später Helena Roerich zu erkennen.

      Aber folgen wir ihren eigenen Worten: »Ich war gerade beim Eingang zum Hyde Park, als sich die Menge plötzlich teilte und ich zwei hochgewachsene Inder erblickte, die mir geheimnisvoll zulächelten.«13

      Nicht mehr und nicht weniger teilte sie Jahre später Sinaida Lichtmann mit, und es ist natürlich die Frage, woher Helena Roerich wusste, dass dies ausgerechnet Kut Humi und Meister Morya waren. »Mit dem Herzen, mit dem untrüglichen Blick der Seherin«, könnte man antworten, und ebendies scheint auch Sinaida Lichtmanns Annahme gewesen zu sein. Und um die Bedeutung dieser Begegnung noch zu verstärken, erzählte Helena ihrer Jüngerin auch, vor ihre Reise nach London habe sie von der Theosophie »absolut nichts gewusst«.14 Erst Sinaidas Schwägerin Esther Lichtmann wird sie zehn Jahre später – vermutlich hatte sie ihre frühere Behauptung längst vergessen – die Wahrheit erzählen, nämlich dass es Dr. Rjabinin gewesen war, der sie bereits vor der Revolution mit der Theosophie bekannt gemacht hatte.

      Aber die Begegnung am Hyde Park wurde erst einmal angezweifelt. Helena Roerich berichtete ihrer Jüngerin weiter, zu Hause hätte man sie ob ihrer Behauptung sogar ausgelacht. Wer da gelacht hat, hat Helena leider nicht mitgeteilt. Kaum ihr Ehemann, von dem keinerlei öffentliche Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau überliefert ist, sondern vermutlich einer ihrer beiden Söhne, Swjatoslaw oder Juri oder vielleicht auch beide zusammen. Der ältere, Juri, war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und studierte in London am Institut für orientalische Sprachen, der jüngere, den alle Welt nur Swetik nannte, war erst 16. Beide hatten in ihrer Kindheit wohl zu viele Exaltiertheiten ihrer Mutter erlebt, um jedes ihrer Worte auf die Goldwaage zu legen. Aber was die Mahatmas anging, so sollte den Söhnen das Lachen noch vergehen.

      Vorläufig jedoch kehrte wieder Ruhe ein, das Erscheinen der beiden Mahatmas blieb ein singuläres Ereignis. Nikolai Roerich und seine Frau Helena widmeten sich in London, wie bereits erwähnt, ihren Séancen. Ein häufiger Teilnehmer wurde bald Wladimir Schibajew, der spätere Sekretär von Nikolai Roerich.

      »Ich wurde am Abend des 2. Juni 1920 von dem Künstler und Akademiemitglied Roerich eingeladen und saß wie gewöhnlich mit seinem Sohn in dessen Zimmer, wo wir über verschiedene wissenschaftliche Themen sprachen. Ich wusste nicht, dass Roerich und seine Frau zusammen mit dem jüngeren Sohn in der Nähe spiritistische Versuche vornahmen. Auch wusste ich nicht, dass sie ihre Leiter fragten, ob es erlaubt sei, mich zum Kreis zuzulassen. Als diese Frage bejaht wurde, bat man mich herein und an den Tisch zu setzen. Im Zimmer war helles Licht und jeglicher Betrug ausgeschlossen. Der Tisch zitterte nervös und rutschte hin und her, und als wir ihn fragten, wer es denn sei (ein Schlag bedeutete Ja, zwei Schläge Nein, drei Schläge ein verstärktes Ja), nicht etwa der Lehrer, da rutschte der Tisch, und es gab einen Schlag.«

      Mit »Lehrer« war ein geistiger Führer aus dem Jenseits gemeint.

      »Danach wurden die Buchstaben mitgeteilt. Das ging so, dass einer der Anwesenden laufend die Buchstaben des Alphabetes sagte und, wenn ein Buchstaben ausgesprochen wurde und ein Schlag ertönte, man wusste, welcher Buchstabe gemeint war.«

      Es war eine interessante Séance. Der junge Student erfuhr, sein geistiger Führer sei ein Italiener namens Sarto, der 1350 in Pesaro gelebt habe, und dass er, Schibajew, selbst ein »Medium« sei. Schließlich wurde Schibajew aus dem Jenseits mitgeteilt, »er solle sich in den Aufbau der neuen Welt vertiefen«.

      »Darauf gingen wir in ein anderes Zimmer, wo mir Münzen und Talismane gezeigt wurden, die bei der letzten Séance gesandt worden waren, sowie automatische Zeichnungen mit den Porträts der Lehrer, die aus der Hand von Nikolai Konstantinowitsch stammten. Danach saß Nikolai Konstantinowitsch in dem beleuchteten Zimmer, drehte den Kopf zur Seite, bedeckte das Gesicht mit der linken Hand, hielt mit der rechten Hand den Bleistift über dem Papier und begann zu zeichnen. Wir zogen wieder den kleinen Tisch zu Rate. Wir erfuhren, die Roerichs sollten, koste es was es wolle, dieses Land sofort verlassen. Wohin? – Nach Ceylon.«15

      Bekanntlich folgte die Pleite von Roerichs Auftraggeber, und statt Ceylon hieß das neue Ziel notgedrungen Amerika. Schibajew, der ja als Sekretär hatte mitfahren sollen, blieb den Roerichs weiter verbunden. Sie hatten vor ihrer Abreise eine logenartige Organisation gegründet und ihn darin aufgenommen. Eine sehr kleine Organisation allerdings, es gab gerade einmal die Roerichs sowie einen weiteren russischen Studenten, George Chklaver, als Mitglieder.

      Dass Schibajew, später Schlüsselfigur im Organisationsgeflecht der Roerichs, zwar beeindruckt, aber noch nicht völlig bei der Sache war, kann man daraus schließen, dass er nach ihrer Abreise engen Kontakt mit einem Kreis russischer Spiritisten, den sogenannten Bawaisten, aufnahm. Dieser »Kreis der höheren Ziele« wurde von einem verstorbenen Lehrer aus Kasan namens Bawajew geleitet, der seinen Jüngern bei Séancen Hochinteressantes nicht nur aus dem Jenseits, sondern auch aus der Musik und den Sprachwissenschaften mitteilte. Sechs Jahre lang wurden den »Bawaisten« Lehren aus dem Jenseits zuteil, und es bestanden Pläne, hundert Bände zu veröffentlichen und die Arauch der heilige S. (vermutlich Sergej von Radonesch), der heilige F. (vermutlich Franz von Assisi) sowie ein gewisser Schtschagij und jemand namens Chorotschai. Und das waren nicht einmal alle. Am häufigsten tauchte ein Allal-Ming Schri Ischwara auf, dessen Nachname bis auf einen Buchstaben dem des Landsitzes in der Nähe von Petersburg entsprach, wo Nikolai bis zur Jahrhundertwende jeden Sommer verbracht hatte. Allal-Ming Schri Ischwara, der im Familienkreis nach kurzer Zeit nur noch Allal Ming hieß, war, bis auf Ausnahmen, bald die einzige Stimme aus dem »Äther«, die sich regelmäßig meldete.

      Die Nachrichten waren anfänglich selten und dabei reichlich kryptisch und recht banal. »Aum – tat sat – aum«, erfuhren die Roerichs oder »es lärmt das Leben, seid vorsichtig« und »lasst alle Vorurteile, denkt frei«.

      An Nikolai persönlich waren Nachrichten gerichtet wie: »Viel Nutzen bringst Du der Welt« oder »Deine Bilder haben Bedeutung für das Kommende«.

      Helena erfuhr: »Vertiefe Dich in das Wesen des Ewigen, indem Du Ramakrischna liest«, und der ältere Sohn Juri schließlich erhielt Mitteilungen