Also machen wir uns mit dem Auto auf nach Wallonien, ein Reiseziel, das den meisten Deutschen eher fremd erscheint: Eine Woche nach Belgien? Und nicht ans Meer? Auch nicht nach Brüssel oder Brügge, Gent oder Antwerpen? Dass man auch in Südbelgien Urlaub machen kann, scheint vielen erst einmal nicht bewusst. Oft folgt ein leises „Und was macht man da?“. Um es kurz zu machen: wandern, Kajak fahren, die Ruhe genießen, alte Städte entdecken, Höhlen erforschen, um nur einige Aktivitäten zu nennen. Und natürlich essen. Die Wallonie ist hügelig, grün, von kleinen Flüssen durchzogen, mit malerischen Dörfern, die so weit weg von jeder Stadt zu liegen scheinen, dass man sich insgeheim fragt, was ihre Bewohner wohl den ganzen Tag machen, wenn sie nicht gerade Bauern sind. Eine eigene Sprache haben die Wallonen auch. Und nein, es ist nicht das amtliche Französisch, sondern Wallonisch, das auch Unwissende sofort als eigenständiges Idiom erkennen.
Die erste Station der Reise haben wir bereits hinter uns. Liège (Lüttich) gleich an der Grenze ist kein klassisches Touristenziel. „Morbider Charme“ wäre ein schönes Schlagwort für Liège, oder vielleicht „unentdeckte Schönheit“. Letzteres dürfte den Tourismusbehörden besser gefallen, trägt aber nicht wirklich dem Faktum Rechnung, dass die Stadt ein echtes finanzielles Problem zu haben scheint und sich immer wieder mal an ihren Gegensätzen verschluckt: So unglaublich viele alte Gebäude, denen man die einstige Grandeur mühelos ansieht – immerhin war Liège seit dem Mittelalter ein wichtiges Handelszentrum an der Maas. Und so unglaublich viele davon im Stadium des Verfalls. Dass wir uns trotzdem auf Anhieb in die Stadt verlieben, hat viele Gründe: Zum einen ist Liège kulinarisch gesehen ein grandioser Einstieg. Lièger Bouletten mit Hasensoße, die den Hasen noch nicht einmal vom Sehen kennt, ist einer davon: Fleischklöße in einer süßsauren Soße aus Zwiebeln und Apfelsirup. Oder die Gaufres de Liège (Lütticher Waffeln), mächtig dick und mächtig fettig, von Schokolade umhüllt.
Eher rollend als laufend erkunden Elias und ich nach dem Mittagessen die Altstadt an der Rue Hors-Château. Hier und da tun sich die Impasses auf, kleine Durchgänge zwischen den schiefen Häuschen, und dahinter – geradewegs ein eigenes kleines Stadtviertel, dessen Gassen so eng sind, dass die Lütticher Feuerwehrleute nachts davon wahrscheinlich Albträume bekommen. Ein wenig weiter trainieren wir uns die üppigen Spezialitäten gleich wieder vom Leib, denn die Seitenstraße Montagne de Bueren (Gebirge von Bueren) trägt ihren Namen zu Recht: Rund vierhundert steile Stufen führen zu den höher gelegenen Stadtteilen, die nicht gerade dazu einladen, Bier- oder Colakästen auf Vorrat zu kaufen. Wir schleppen uns hinauf, entlang der Altbauten, während hinter eisernen Gittern üppiges Grün hervorschimmert. Ein Blick nach rechts und nach links, dann schleichen wir uns durch ein geöffnetes Gartentor in einen verwilderten Garten, längst verlassen, vielleicht von einem, der seine Einkäufe nicht mehr schleppen wollte. Über Schleichwege forschen wir weiter, durch unglaublich große Grünanlagen: Parks sind es nicht, auch keine Gärten. Kann es sein, dass eine Stadt von 200.000 Einwohnern sich mitten in der Altstadt solche vergessenen Oasen leistet? Schnell wird es Abend, und wir haben noch nicht einmal einen Bruchteil der Stadt entdeckt. Um es kurz zu machen: Liège scheint auf den ersten Blick wahrlich kein Ort, der zum Familienurlaub einlädt. Und doch sind es gerade diese Entdeckertouren ohne Erklärungen, Ausschilderungen oder pädagogische Aufbereitung, die uns das prickelnde Gefühl geben, irgendwie die Ersten gewesen zu sein.
Abends kehren wir in einer Friture ein, eine kleine Frittenbude, wie es sie in Wallonien zu Tausenden gibt. Für Elias muss es eine Mitraillette sein. Hinter dem martialischen „Maschinengewehr“ verbirgt sich ein Baguette, belegt mit Fritten und einer üppigen Portion Mayonnaise. Bei derartigen Nationalspeisen muss man sich keine Sorgen um die Kinder-Kompatibilität machen.
Am nächsten Tag, auf dem Weg nach Süden, gönnen wir uns einen vielversprechenden Zwischenstopp im Lièger Vorort Seraing: Bei Bonbons à l’Ancienne werden die traditionellen wallonischen Cuberdons hergestellt, kleine bunte Kegel von Gummibärchen-Konsistenz, mit flüssigem Sirup gefüllt. Mitten in einem Wohngebiet steht die unscheinbare Produktionshalle. Hier? Ob das die richtige Adresse ist? Die nächste Stunde wird zum echten Highlight des Urlaubs: Wir bekommen einen Kittel, eine bescheuerte Plastikhaube und dürfen hautnah an die Maschinen, dem Sirup-Rührer zuschauen und ausgiebig probieren. Weil die Cuberdons gegen Verkleben mit Zuckerpuder bestäubt werden, sehen Elias und ich schon nach wenigen Minuten aus wie aus einem Slapstick-Film: über und über weiß, nur die Augen schauen rund heraus. Die Plastikmütze? Der pure Eigenschutz.
Etwas klebrig, aber gut gelaunt geht es entlang der Maas nach Dinant. Dazu muss man wissen: Dinant mit seinen 13.000 Einwohnern ist keine Stadt, die im Mittelpunkt des Weltgeschehens steht. Eine unbestrittene Attraktion hat sie jedoch schon: Adolphe Sax, der Erfinder des Saxophons, wurde im Jahre 1814 in Dinant geboren – eine Tatsache, die sich nicht übersehen lässt. Auf Gebäck, in Schaufenstern, als Skulpturen auf der Brücke, überall ist das Saxophon präsent. So oft begegnet der Besucher Adolphe Sax beziehungsweise dem famosen Instrument, dass ein nicht ganz unwichtiges Detail fast in Vergessenheit gerät: Klar, Monsieur Sax wurde in Dinant geboren, gelebt hat er hier allerdings nicht. Im zarten Alter von zwei Jahren zog er mit seiner Familie nach Brüssel und ward nie wieder gesehen. Dabei ist es nicht so, dass die Stadt nichts zu bieten hätte. So klein ist sie, dass wir nach einem gemütlichen Stadtspaziergang zwischen Mittag- und Abendessen zu dem Schluss gelangen, der Kartograf habe versehentlich einen großen Teil der Stadt auf der Touristenkarte vergessen. Hat er aber nicht. Mehr Straßen wären bei näherer Betrachtung gar nicht möglich gewesen. Dinants prächtige Bauten sind geradezu an den Fels genagelt, der das schmale Tal rechts und links begrenzt.
Und jetzt? Nur wenige Schritte von der Altstadt entfernt, quasi mitten in der Stadt, finden wir den Eingang zur Höhle „La Merveilleuse“ und bekommen mangels Besuchern eine private Führung durch eine der schönsten Höhlen des Landes. Zurück im Tageslicht finden wir eine kleine Pralinenmanufaktur. Das Reiseglück ist perfekt und die Beute so üppig, dass Elias und ich keinen Gedanken mehr an das Abendessen verschwenden müssen, nein – können!
Auf der nächsten Etappe durch die Ardennen lernen wir Belgien von der idyllisch grünen Seite kennen. Zugegeben, das reißt einen Elfjährigen nicht vom Hocker. Spannend wird es erst wieder in Durbuy. Gerade mal vierhundert Einwohner hat der Ort, der sich den Titel „kleinste Stadt der Welt“ verpasst hat. Die engen Gässchen aus grob gehauenen Steinhäuschen des 17. und 18. Jahrhunderts, liebevoll ausstaffiert, sind in der Tat herzallerliebst. Doch ein kurzer Spaziergang (selbstverständlich mit einer Portion Pommes auf der Hand und einem kurzen Zwischenstopp samt Tarte au Riz – Reiskuchen – mit Abstecher in eine Metzgerei, um den Ardennen-Schinken zu probieren) muss genügen, denn wir sind nicht der Architektur wegen hier. Unser Ziel ist die Herberge „La Balade des Gnomes“ (www.labaladedesgnomes.be) im nahe gelegenen Weiler Heyd. Diese mit Worten zu beschreiben ist eine echte Königs-Übung. Sagen wir mal so: Es gibt Menschen, die fahren bis nach Neuseeland, um sich eine echte Hobbithöhle anzuschauen, doch das ist wirklich nicht nötig, denn Heyd kann in dieser Hinsicht gut mithalten. Die Zimmer des seltsamen Hotels sind allesamt einzigartig und so verflucht echt ausgestattet, dass es fast beängstigend ist. Schon am Parkplatz steht das meterhohe Trojanische Pferd, offensichtlich bereits vergeben, denn die hölzerne Zugbrücke unter dem Pferdeschweif ist hochgezogen. Für uns ist die Troll-Höhle reserviert. Der erste Schritt ins Zimmer verschlägt Elias schier den Atem. Mir auch: Es ist eine dunkle Erdhöhle, von der Decke hängen Wurzeln, aus den Nischen lugen kleine Nager, das Bett ein regelrechter Kobel. Auch die anderen Zimmer sind wahre Kunstwerke: Eines wird gar von einem zum Bett umfunktionierten Segelschiff samt Wasserfläche ausgefüllt. Was sich wie kitschiger Kinderkram liest, ist de facto eine Attraktion, die keine Probleme mit Buchungszahlen kennt.
Im Vergleich dazu ist die letzte Station der Reise rundum erholsam – was wäre schon eine Ardennenreise ohne eine anständige Kajakfahrt? Für diese Art der Naturkontemplation lässt sich auch Elias begeistern. In Chiny an der Semois finden wir nicht nur ein erleichternd luftiges, weiträumiges Hotelzimmer im „Comtes de Chiny“, sondern auch einen Kajakverleih