„Ich habe lauter zerrissene Hemden und Strümpfe“, sagte das Mädchen trotzig, „so reise ich nicht.“
„Du hast schon ein hübsches, ganz neues Kleid für das Frühjahr; ein Jäckchen dazu und einen neuen Hut, das genügt vorderhand. Das andere wird dir nachgeschickt werden.“
„Ich will nicht, ich will aber nicht“, weinte das Mädchen auf, „was soll ich bei der dummen Lore?“
„Du kennst sie ja gar nicht.“ Die Mutter versuchte ein gütiges Zureden. „Du wirst Lore lieben. Du musst ja so dankbar sein, dass du ihr zur Freundin erkoren bist. Welche Freuden stehen dir bevor: das schöne Haus — doch noch ein bisschen ein anderes Haus als hier unsere kleine Villa, in der einer dem anderen lästig auf dem Halse sitzt — der Obstgarten, der Park! Ihr werdet ausfahren, Lore kutschiert zwei niedliche Ponys. Ihr werdet vielleicht sogar reiten lernen, reiten ist der schönste und vornehmste Sport, ich beneide dich!“
„Dann geh du doch hin.“
„Sprich nicht solchen Unsinn!“ Frau Ingeborg wollte streng sein, aber es gelang ihr nicht recht; mit Strenge war auch noch niemals etwas bei Britta auszurichten gewesen. So versuchte sie es anders: „Ach, Kind, Kind, wie betrübst du deine Mutter — deine arme Mutter! Was würde dein Vater, mein guter Bade, dazu sagen, dass du so widersetzlich gegen mich bist!“
„Mein Vater ist tot, der hat nichts mehr zu sagen. Ich habe jetzt einen anderen“, murmelte das Mädchen, kehrte sich gegen die Wand und schien nicht mehr zu sehen noch zu hören. — — —
„Das ist dein Werk“, schrie Frau Ingeborg ihrem Mann ins Gesicht, nachdem sie sich beim Zubettegehen bereits lange über Brigitte beklagt hatte, „du hast ihr Flausen in den Kopf gesetzt. Ist das wohl erhört, eine so dumme Iöre wie ein Fräulein zu behandeln? Ihre Widersetzlichkeit ist allein deine Schuld, ganz deine Schuld. Oh, wie hing sie früher an mir, jetzt bin ich ihr nichts mehr! Du hast mir Brittas Herz gestohlen, nur dir sieht sie nach den Augen. Ich könnte heute fortgehen und morgen nicht mehr wiederkommen, es wäre ihr ganz egal. Nur von dir mag sie nicht getrennt sein. Pfui, du Verderber!“ Sie machte die Gebärde des Ausspeiens, dann brach sie in Weinen aus.
„Ich weiss gar nicht, warum du so ausser dir bist.“ Er sah sie kalt an.
„Du bist ein Lügner, ein Betrüger, ein Verführer! Du machst das junge Ding verrückt nach dir, geradeso, wie du mich verrückt gemacht hast! Ich begreife mich selber nicht, wie konnte ich dir nur gleich so verfallen? Einem Menschen, der nichts ist und nichts hat. Was tuschelt ihr immer zusammen, was flüsterst du ihr in die Ohren? Oh, ich habe es heut abend wohl gemerkt, dass ich euch störe — du bist ein gemeiner Mensch, ich lasse mich von dir scheiden — o du gemeiner Kerl!“ Nun machte sie nicht mehr bloss die Gebärde des Speiens, sie spie ihn wirklich an.
Da packte er ihre beiden Handgelenke, starr sah er ihr ins Gesicht, mit eiserner Kraft drückte er sie in die Knie, den zwingenden Blick nicht von ihr lassend: „Du wirst das nicht tun. Scheiden lassen? Du wirst dich nicht scheiden lassen — hörst du? — nicht scheiden lassen!“ —
Er presste ihre Handgelenke, bis sie ächzte: „Nein, nein!“
„Du wirst dich nicht unterstehen, nochmals falsche Beschuldigungen gegen mich zu erheben!“
„Nein, nein.“ Sie lag vor ihm, ganz zusammengefallen. Er hatte ihre Hände losgelassen, aber sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihre schmerzenden Handgelenke zu reiben.
„Du wirst dir die dreissigtausend Mark unter allen Umständen verschaffen. Du wirst sie mir geben, hörst du?“
„Nein“, stiess sie verzweifelt heraus.
„Du wirst es tun. Du wirst sie mir geben, hörst du?“ Er stiess sie mit dem Fuss an.
„Nein!“
„Du wirst sie mir geben“ — schon packte er wieder ihre Handgelenke, riss sie zu sich empor und blickte ihr von ganz nah starr ins Gesicht —, „du wirst sie mir geben!“
„Ja, ja“, winselte sie.
„Du wirst mir auch Vollmacht ausstellen, dass ich, ich von jetzt ab dein Vermögen verwalte.“
Sie bäumte sich: nein, das wollte sie nicht, das konnte sie ja gar nicht. „Nein, nein!“
Er hob sie mit brutaler Gewalt in die Höhe und schleuderte sie aufs Bett. Mit kurzem Auflachen streckte er sich dann neben ihr aus: :„Du wirst es doch tun!“
V
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, an dem Brigitta Bade in Güldenaue eintreffen sollte. Die Mutter hatte fest auf ihrem Willen bestanden. Britta war der Mutter deswegen böse — sollte sie nicht auch dem Stiefvater böse sein? Wie konnte er nur ihrer Abreise zustimmen? Immer noch hatte sie gehofft, er würde für sie sprechen, er wusste es ja, wie ungern sie ging. Aber er hatte sie nur auf seinen Schoss genommen, ihr die immer wieder und wieder quellenden Tränen mit seinem Taschentuch abgewischt und unter zärtlichem Streicheln geflüstert: „Du bist ein gutes Kind, du tust es mir zuliebe, nicht wahr, mein Mäuschen? Ich brauche Geld — dreissigtausend Mark — die gibt mir deine Mutter sonst nicht. Und ich muss mir dadurch eine Stellung schaffen, ich muss mich freimachen, ich bin sonst unglücklich dran. Du kannst mir helfen, du musst mir helfen, du wirst mir auch helfen, mein Mäuschen!“
Und sie versprach es. Sie wollte ihm ja gern helfen, für ihr Leben gern. Aber es wurde ihr doch schwer, furchtbar schwer, sich zu trennen. In der Schule hatten sie alle beneidet: ‚Brigitte Bade kommt auf ein Schloss zu Millionären, hat die ein Glück!‘
Der Morgen der Abreise war gekommen, Britta konnte nichts sehen vor lauter Tränen. Lisbeth, das kleine Zweitmädchen, weinte verständnisvoll mit. „Fräulein Britta“, schluchzte sie, „reisen Sie man glücklich“ und stürzte dann, sich die Schürze vors Gesicht haltend, ins Haus zurück.
Der Stiefvater brachte den kleinen Koffer heraus und auch die Handtasche seiner Frau. Als die Mutter — in hellgrauem Reisemantel und hellgrauem Hütchen, alles geschmackvoll in grau — im Wagen Platz genommen hatte, schwang er sich neben den Kutscher auf den Bock. Man fuhr zur Bahn; er und seine Frau würden die Tochter dann auch noch bis Berlin begleiten. Wenn sie Britta dort in den richtigen Zug eingesetzt hatten, würden sie dort noch Geschäftliches erledigen.
Da war etwas zwischen den Eltern, was nicht stimmte, Britta bemerkte es trotz ihres eigenen Bedrücktseins. Die Mutter liess manchmal einen langen Blick auf ihr ruhen, so merkwürdig lang und nahezu ängstlich, dass es ihr fast war, als fürchte die etwas. Fürchtete sie den Abschied, machte sie der traurig? Das geschähe der Mutter ganz recht, warum schickte die sie fort. Britta drückte sich immer tiefer in ihre Ecke, lehnte den Kopf an und schloss die Augen.
Frau Ingeborg war in der Tat traurig, es schmerzte sie nun doch, ihr Kind fortzugeben. Aber wenn ihr das nur Trotz zeigte, Gleichgültigkeit und Ablehnung, warum sollte sie sich dann grämen? Hatte sie nicht schon Gram genug? Tom war von einer Gleichgültigkeit gegen sie, die sie empörte. Diese Gleichgültigkeit war weit schlimmer, als wenn er sie seine Kraft fühlen liess; dann war doch immerhin etwas dabei, was ihr imponierte, sie ängstigte und bezauberte zugleich. War es nicht schreckhaft süss, wenn er sie rauh von sich stiess, um sie gleich darauf durch ein Lächeln, einen Blick zur Hingabe und zur vollen Aufgabe alles eigenen Willens zu zwingen? Ach, er war eben ein Mensch, anders als andere Menschen! Er hatte Stunden, in denen er sich selber anklagte, kein guter Mensch zu sein. Er konnte sich aber nun einmal nicht ändern. Frau Ingeborg sah nach ihrem Mann hin: wie blond, wie frisch gewaschen und gut rasiert, ein schöner Mensch! Sie war trotz allem doch nun einmal verliebt in ihn.
Tom Till bemerkte ihren Blick: ‚Nun habe ich sie so weit. Nun braucht sie nur noch zu unterschreiben, und es liegt ganz bei mir, was ich mit dem nachgelassenen Vermögen des Herrn