Menschen unter Zwang. Clara Viebig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clara Viebig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711466971
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und es war ungesund, warm zu schlafen. Wenn im Winter die Dienstmädchen klagten, das Wasser sei ihnen alle Morgen so eingefroren, dass sie sich nicht waschen könnten, sagte die Schlossherrin: „Dann wascht euch nicht.“ Die Mädchen konnten sich ja Holz sammeln gehen in den Forst, aber sie fürchteten den Förster, die dummen Dinger!

      Der allnächtliche Wind hatte sich wiederum aufgemacht, er pfiff höhnisch durch den kahlen Gang und wischte den Porträts an den getünchten Wänden, von denen man nicht wusste, wer und von wannen sie waren — Ahnenbilder des vorigen Besitzers — über die verwunschenen, spinnwebfarbenen Gesichter. Sie schauten geisterhaft aus ihren Rahmen, denn nur ab und zu, wenn ein Windstoss schwere Schneewolken am Himmel auseinanderfegte, huschten sie für Augenblicke in seltsamem Licht aus dem Dunkel, um blass und wesenlos gleich wieder zu verschwimmen. Die Dienstmädchen fürchteten sich abends im Dunkeln, selbst die Rotenbücher, die wahrlich keck war, wusste Gruselgeschichten zu berichten. Aber die Greisin fürchtete sich nicht. Wovor? Tote tun einem nichts Leides mehr an, die schlafen für immer; und die hier an den Wänden, die waren zudem nur Ölfarbe und Leinwand. Sie unterdrückte ein Gehüstel, das ihr in der Kälte kam. Sie war jetzt nicht mehr in schwarzer Seide und auch das Spitzendeckelchen auf dem Kopf fehlte, sie hatte jetzt schon den alten zerschlissenen Morgenrock an, den sie aus Sparsamkeitsgründen immer auf ihrem Zimmer trug; im Zugwind flatterten ihre schütteren, kurz gewordenen Haare.

      Sie hüstelte in sich hinein: was sagte sie nun, wenn das Kind vielleicht noch nicht schlief oder wach wurde? Aber es schlief; Kinder schlafen fest, sowie sie im Bett liegen. Aber war Lore denn noch ein Kind? Ihre Hand drückte leise die Klinke nieder. Es war finster in dem Mädchenstübchen, das nach Frische und Sauberkeit und nach Jugend — ha, nach Jugend! — roch. Die Greisin schnüffelte in die Dunkelheit hinein: ob sie es wagen könnte, Licht zu machen? Hätte sie doch ihren Wachsstock und die Streichhölzer nicht vergessen! Oh, dass sie das Kind doch mal im Schlaf ganz unbeobachtet sehen könnte! Sie hatte einen wahren Heisshunger danach. Als erriete der Himmel ihren Wunsch, so schickte er jetzt seinen Mond. Scheu und zitternd kroch der bleich durchs Fenster, aber man sah doch genug bei seinem Schein. Ein schlafendes rosiges Kind, einen Arm über dem Kopf, den anderen mit leichter Rundung auf die Brust gelegt.

      Lieb sah sie aus! Friederike Längnick trat nahe ans Bett und forschte mit spähenden Augen: neben aller Lieblichkeit war da etwas — was war es doch? — etwas, das über der Nasenwurzel in einer Falte sass. Und kein Lächeln war im Schlaf um den Mund, ein fester, fast eigenwilliger Zug hielt die Lippen geschlossen aufeinander. Ah, die war eine Längnick, eine Längnick! Friederike Längnick atmete tief auf: eine Längnick, in direkter Linie von ihr, der Urgrossmutter, her. Das fremde Blut war ausgemerzt, nur eine äussere Ähnlichkeit da. Grossvater und Vater waren auch ausgemerzt. Wie in zitternder Freude hauchte die Greisin in die Luft: ah, das tat gut, das tat gut! Hier war eine, deren sie sich nicht zu schämen brauchte, Wille von ihrem Willen, ein eigener Wille. Endlich!

      Eine grosse Genugtuung hob der Greisin Seele: wenn man lange genug gewartet hat, dann kommt doch endlich das, auf das man schon geglaubt hat, verzichten zu müssen. Lange blickte sie so in das ernsthafte junge Gesicht, das ihr im Schlaf mehr offenbarte als im Wachen. Sie dachte nicht mehr daran, dass Lore aufwachen könnte und dass sie dann hier stehen würde ertappt; sie konnte sich gar nicht losreissen. Erst als Lore, von dem starrenden Blick in ihrem Schlaf beunruhigt, anfing, sich zu regen, den über den Kopf gelegten Arm herunterfallen liess, floh sie.

      Lore war erwacht, sie setzte sich aufrecht. Ihr war es gewesen, als hätte etwas ihre Stirn berührt. Und hatte ihre Tür nicht geklappt? Tappte nicht auch draussen im Gang etwas? Nun der Vater nicht da war, war man so ganz ohne Mann im Haus. Aber freilich, der hätte auch nichts genützt. Entschlossen sprang sie aus dem Bett und zündete Licht an. Merkwürdig, ihre Tür war nur angelehnt. Aber draussen im Gang war niemand. Aha, das hatte der Wind getan, der Wind, der greuliche Wind! Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum: nun konnte der nicht mehr aufmachen.

      In dieser Nacht brannte bei der alten Längnick noch lange die Lampe. Sie hatte in ihrem Zimmer noch immer eine Petroleumlampe, die gab ihr ein Licht, an das sie gewohnt war von früher her. Und billiger war diese Art von Beleuchtung auch. Sie schrieb einen Brief an Frau Ingeborg Bade, jetzt verehelichte Till, schrieb ziemlich ausführlich, warum und weswegen sie Brigitte her zu haben wünsche. Sie war keine Heldin mit der Feder, aber was sie wollte, brachte sie schon zu Papier. Von einer Pensionszahlung war nicht mehr die Rede; alles sollte Brigitte hier frei haben und genau gehalten werden wie Lore. Sie schloss mit einer Wendung, von der sie überzeugt war, dass sie den gewünschten Erfolg haben würde.

      ‚Wenn Brigitte Bade als liebevolle Gefährtin und treu ergebene Freundin bis zu Lores Verheiratung bei derselben bleibt, gebe ich ihr bei ihrer etwaigen eigenen Verheiratung die Aussteuer. Für den Fall, dass ich dann nicht mehr lebe, bekommt Brigitte Bade ein Kapital von fünfzehntausend Mark ausgezahlt. Ich lege das fest.

      Hochachtungsvoll

      Frau Friederike Längnick-Güldenaue.‘

      IV

      „Lies mal“, sagte Frau Ingeborg. Ihr Mann nahm den Brief, den sie aus Güldenaue erhalten hatte; erst las er ihn ziemlich interesselos, das, was da Schönes von einer Freundschaft zwischen der Erbin und Britta stand, war ja ohne Belang. Aber dann wurde er aufmerksamer: also man legte so viel Wert auf Brittas Kommen, dass man ihr eine Aussteuer respektive die betreffende Summe dafür aussetzen wollte?

      „Ist denn da so viel Geld?“ fragte er.

      „Oh, mächtig viel“, rief Ingeborg. „Die Alte hat ja mit ihrem Landschacher Millionen verdient. Eine grässliche Frau, Geld, Geld und nochmals Geld! Schon früher wollte sie Britta haben. Aber ich sollte Pension zahlen — wo Geld ist, wollen sie immer noch mehr Geld — das sollte mir gerade fehlen! Wir haben unser Geld nötig, wir brauchen sowieso viel zu viel.“

      „Ich nicht“, sagte er trocken. „Du brauchst zu viel. Kleider, Pelzmäntel, immer Neues und das Allermodernste. Und dann deine Reisen. Ich erinnere nur an Berlin, alle Nase lang Berlin!“

      „Ich habe das nötig“, sagte sie aufbegehrend. „Das ewige Einerlei hier macht mich krank, martert mich zu Tode.“

      Er sah sie finster an, sein jugendlich hübsches Gesicht zeigte plötzlich einen ganz anderen Ausdruck. „Dann hättest du mich nicht heiraten sollen. Ich habe dir ja gesagt, dass ich nichts mehr habe. Mein Bruder schickt auch nichts mehr, seit ich eine reiche Witwe geheiratet habe.“ Er hob das ‚reiche‘ besonders hervor mit einem anzüglichen Auflachen. „Wir haben uns eben getäuscht, uns selber was vorgemacht, du in deiner Liebe, ich mit meinem“ — er stockte — „nun mit meinem Wunsch, in den Sattel zu kommen. Wenn ich dreissigtausend Mark hätte, könnte ich mich morgen schon an einem glänzenden Unternehmen beteiligen: Baumaterialien, Schiefer aus rheinischen Schieferbrüchen, Ziegel aus der neuen Ziegelei bei Ketzin. Man könnte viel dabei verdienen. Vielleicht wird wieder eine neue Gedächtniskirche gebaut!“ Er sah sie fest und ausdrucksvoll dabei an. „Aber ich habe die Dreissigtausend ja nicht.“

      „Na, dann nimm sie dir doch schon“, rief sie leichtsinnig und warf sich ihm an den Hals. „Ich bin nicht knickrig, wahrhaftig nicht. Nun hab’ mich aber auch wieder lieb!“ Sie suchte seinen Mund mit verlangenden Lippen. Und er küsste sie dann.

      So endete es immer, jede Meinungsverschiedenheit, jeder Vorwurf, jede Auseinandersetzung, jede Ehezwistigkeit.

      Oh, dass er doch diese alternde Verliebte nicht geheiratet hätte! Der Achtundzwanzigjährige empfand die Vierzigjährige wie eine Last. Er hatte es gleich in den ersten acht Tagen gewusst, dass er sie lieber nicht hätte heiraten sollen. Was hatte ihn nur dazu getrieben? Es gab so viele hübsche frische Mädchen, er wusste, dass er auf Frauen Eindruck machte, immer Eindruck, er brauchte gar keine besonderen Künste anzunwenden — aber diese Mädchen hatten alle kein Geld. Und er brauchte Geld, er wollte Geld. Schon von früher Jugend an wusste er den Wert des Geldes einzuschätzen. Als er noch auf nackten Füssen über die staubig-harte Landstrasse lief, die von der verfallenen Behausung des Vaters in die Stadt zur Schule führte, war er sich dessen bereits bewusst gewesen. Geld, Geld! Sein Vater war so heruntergekommen, dass er, statt selber noch Herr zu sein, die Schafe des Herrn