Ein Mädchen kommt ins Landschulheim. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия: Abenteuer von Leona
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711719718
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ich komme übrigens nach den Ferien nicht mehr wieder!“ – Ihre Stimme klang gepreßt, denn es war ihr, als stecke ihr ein Kloß im Hals.

      „Was!?“ Babsi riß förmlich vor Erstaunen Mund und Augen auf.

      „Hörst du seit neuestem schlecht?“ fragte Leona hochmütig.

      „Überhaupt nicht! Bloß … ich versteh es nicht! Zieht ihr etwa weg?“

      „Nein. Meine Mutter will wieder arbeiten, und ich komme in ein Internat.“ Leona warf ihr langes Haar in den Nacken. „Nach Rabenstein, falls du schon mal davon gehört hast?“

      „Rabenstein? Und ob!“ Babsi machte einen kleinen Luftsprung. „Mensch, wie ich dich beneide! In Rabenstein sind auch Jungens!“

      „Für Jungens interessiere ich mich überhaupt nicht!“

      „Warum gehst du dann nicht einfach ins Stift? Ich meine … intera?“

      Diese Frage war berechtigt, denn zum Max-Josef-Stift gehört ein Internat, in dem ein Teil der Schülerinnen, die von auswärts kommen oder deren Eltern beide berufstätig sind, wohnen. Die Stiftlerinnen dürfen allerdings jedes Wochenende nach Hause, und das war wohl mit ein Grund, warum Heuers gar nicht auf die Idee gekommen waren, Leona dort hinzugeben. Das aber mochte sie Babsi nicht auf die Nase binden.

      „Ich möchte lieber weg“, behauptete sie.

      „Du hast ja so recht!“ Vertraulich hängte Babsi sich bei ihr ein.

      Sonst hätte Leona sich dieser Berührung sicher entzogen, aber nun, da sie sich mit ihren Eltern verkracht hatte, tat ihr Babsis Anteilnahme wohl.

      „Wenn man mich nur ließe“, fuhr Babsi munter fort, „glaub mir, ich würde es genau wie du machen.“

      „Ja, bist du denn nicht gern zu Hause?“ Zum erstenmal interessierte sich Leona für die Probleme der anderen, aber das wurde ihr gar nicht bewußt. „Du hast doch nette Eltern!“

      „Nett! Was nutzt mir das schon! Abend für Abend sitzen die bloß vor der Glotze. Vati trinkt sein Bierchen und Mutti ihr Likörchen: Wir sollen uns darüber freuen, daß wir dabeisein dürfen. Schon wenn ich mal ins Kino will, heißt’s: ,Wozu? Wir haben doch das Fernsehen?’ Als ob das alles ersetzt?“

      Leona war erstaunt, daß Babsi sich Gedanken machte, die sie selber noch nie gehabt hatte. „Ja, was erwartest du denn?“ „Spaß, Abenteuer, Aufregung … einfach, daß was passiert!“ „Dann würde ich an deiner Stelle mal ’ne Bombe platzen lassen!“

      „Oh, die platzt eines Tages ganz von selber. Spätestens, wenn ich ’nen Freund habe. Vorläufig ist ja noch keiner in Sicht, aber dann! Also wirklich, ich finde es ungeheuer, daß du deine Alten jetzt quitt bist.“

      „So würde ich das nicht sehen.“

      „So habe ich es ja auch gar nicht gemeint. Natürlich bleiben sie dir erhalten. Ohne Eltern wär’s ja auch nichts. Aber wenn du erst in Rabenstein bist, können sie dir nicht mehr reinreden. Das ist doch einfach spitze!“

      Leona konnte Babsis Standpunkt nicht teilen. Aber ein bißchen hatte das Gespräch sie doch getröstet. Bisher war sie sich wie ein armes, verstoßenes Waisenkind vorgekommen. Jetzt auf einmal wurde ihr klar, daß man ihre Situation auch in einem ganz anderen Licht sehen konnte. Babsi fand sie beneidenswert, und nicht nur sie, sondern eine Menge anderer Mädchen, die noch schlechter mit ihren Eltern zurechtkamen, hätten sicher mit ihr tauschen mögen. Das war doch immerhin etwas.

      Allmählich begann sogar eine gewisse erwartungsvolle Vorfreude in ihr aufzukeimen. Was die Mutter ihr von Rabenstein erzählt hatte, hatte doch sehr verlockend geklungen: geheiztes Schwimmbad, Tennisplätze, vielleicht sogar Pferde! Nur ihr Stolz verbot ihr, sich genauer zu erkundigen oder um Prospekte zu bitten. Aber das Bild, das sie sich selber von Rabenstein malte, wurde immer schöner.

      Dazu kam, daß sie sich jetzt, seit sie sich mit der Mutter nichts mehr zu erzählen wußte, zu Hause zu langweilen begann. Wochenlang zu bocken ist sehr schwierig. Aber Leona war fest entschlossen, es durchzuhalten. Sie wollte, daß Vater und Mutter sich wie hartherzige, lieblose Rabeneltern fühlten. Das war die Strafe, die sie, ihrer Meinung nach, verdient hatten.

      Aber ihre eigene Haltung machte ihr das Zuhausesein alles andere als angenehm. Und so kam es, daß sie den Tag herbeizusehnen begann, an dem sie endlich fortkam.

      Noch nie waren ihr die Osterferien so lang vorgekommen. Die Ferien wollten und wollten kein Ende nehmen. Aber dann war es plötzlich doch soweit.

      Der Abschied vom Vater fiel frostig aus.

      „Mach’s gut, meine Große“, sagte er, „auch wenn’s anfangs vielleicht schwierig ist, du wirst dich bestimmt rasch einleben.“

      Sie schenkte ihm keinen Blick, keinen Kuß, kein Lächeln. „Leb wohl“, sagte sie kurz und wandte sich ab.

      Die Bahnverbindung nach Rabenstein war ziemlich umständlich. Deshalb fuhr die Mutter sie, auch weil sie großes Gepäck hatte, im Auto hinaus.

      Es war ein Sonntagmorgen, der Himmel war, als sie die Dunstkuppel über der großen Stadt erst einmal hinter sich gelassen hatten, strahlend blau. Sie fuhren über die Autobahn in Richtung Salzburg. Bald tauchte die prächtige Kette der Alpen vor ihnen auf, deren höchste Gipfel noch weiß vor Schnee in der Sonne schimmerten.

      „Ist das nicht schön?“ rief Irene Heuer.

      Leona schwieg verbissen. Mit einem Seitenblick stellte die Mutter fest, daß sie die Lippen fest aufeinander gepreßt und das Kinn verschoben hatte.

      „Du willst nicht mit mir reden, wie?“

      „Ich wüßte nicht, was wir uns noch zu sagen hätten“, entgegnete Leona.

      „Wie du meinst.“ Lrau Heuer seufzte leicht und stellte das Radio an.

      Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

      Bei Siegsdorf bog Frau Heuer von der Autobahn ab, und Leona hätte gern gefragt, ob sie bald da seien. Aber sie wollte sich keine Blöße geben. Die Straße schlängelte sich bergauf, und sie kamen durch ein Dorf namens Wangen – ein malerisches Fleckchen mit schönen altbayerischen Bauernhäusern, einer Kirche mit Zwiebelturm, einem großen Kaufladen und Wirtshäusern.

      Mehr konnte Leona bei der ersten Durchfahrt von dem kleinen Ort nicht erkennen.

      Hoch über dem Dorf lag, weithin sichtbar, eine mächtige alte Burg, und Leona wußte, noch ehe sie die Hinweisschilder las: Das ist Rabenstein.

      Ihr Herz begann heftig zu klopfen, sie wußte selbst nicht, ob aus Angst oder aus Freude.

      Die schwarzrotgoldene und die bayerische Fahne flatterten im Wind; später sollte Leona erfahren, daß sie immer zum Ferienende und an Feiertagen aufgezogen wurden.

      Frau Heuer mußte in den zweiten Gang zurückschalten, denn das letzte Stück der Straße war jetzt sehr steil. Nach etwa fünfhundert Metern rollten sie durch ein riesiges Burgtor auf einen holprig gepflasterten Hof.

      „Da wären wir!“ Frau Heuer schaltete den Motor aus, stieg aus und öffnete den Kofferraum.

      Leona nahm ihre Handtasche, Regenmantel und Anorak vom Rücksitz und kletterte auf der anderen Seite hinaus.

      Sie war nicht der einzige Ankömmling. Auf dem alten Burghof ging es sehr lebendig zu. Große und kleine Jungen und Mädchen verabschiedeten sich von ihren Eltern und begrüßten lebhaft Freunde und Freundinnen. Eben fuhr ein gelber Bus mit Schülern und Schülerinnen vor.

      „Ich glaube, wir lassen den großen Koffer erst mal hier und sehen, wie du untergebracht bist“, schlug Frau Heuer vor.

      „Danke, das ist nicht nötig“, erwiderte Leona kalt.

      „Wie? Du mußt dich doch nach deinem Zimmer erkundigen!“

      „Es ist nicht nötig, daß du mich begleitest“, erklärte Leona mit berechnender Grausamkeit, „ich