III Ausblick: Problemkontexte und offene Themen
Die oben angerissene Problematik, welchen Einfluss und Grad der Autorschaft Puccini jenseits seiner eigentlichen Komponiertätigkeit auf das dramaturgische und szenische ›Endprodukt‹ der Werke und ihrer Aufführungen besaß, ist nicht zu trennen von der Frage nach der Werkgenese der Partitur und der Rekonstruktion seines eigenen Werkverständnisses, das sich besonders im Umgang mit den Autografen nach einer Uraufführung offenbart. Erst im Zuge der Erstellung des Werkkatalogs (2003) und den Erkenntnissen zur Spezifik seines Kompositionsprozesses23 wurde dieser Problembereich vollständig sichtbar. Was mit der Beschreibung eines für manche Opern unabgeschlossenen ›work in progress‹ auf den Punkt gebracht sein will, hat erhebliche Konsequenzen für das von verschiedenen Seiten projektierte, aber noch ausstehende Gesamtprojekt einer kritischen Edition seiner zehn Werke für die Opernbühne. Pointiert beschreiben lässt sich das Problem so: Puccini war kein ›Konzeptkünstler‹ ante letteram, für den Konzept und Idee die dominierenden Aspekte seines Kunstschaffens gewesen wären, sondern jemand, der während eines komplexen, widersprüchlichen und von ständig neuen Impulsen wie kritischen Reflexionen geleiteten Austauschprozesses mit anderen seine Opern schuf. Sie reiften also mehr in einem kreativen Ausformungsprozess heran, als dass sie nach einem stehenden Plan entworfen und danach gleichsam deduktiv ausgearbeitet worden wären. Seine Reflexionspartner in diesem Prozess waren zuerst die Librettisten wie auch von Verlagsseite der ihm väterlich zugeneigte Giulio Ricordi bis zu dessen Tod 1912. Spätestens mit Probenbeginn aber erweiterte sich dieser Kreis erheblich und wurde quasi das Theater im Ganzen bzw. das von Musikern und Sängern geprobte und schließlich real in Szene gesetzte Spiel selbst. Auf diese Weise lässt sich verstehen, warum Puccini kontinuierlich und in einem Maße am notierten Werktext modifizierte, ausdifferenzierte, erweiterte oder strich wie nach heutigem Kenntnisstand keiner unter den italienischen Komponisten seiner Generation. Manche Opern, wie schon Le Villi etwa, erhielten ihre ›definitive‹ Gestalt erst über mehrere Produktionen und Jahre hinweg, bei der Fassungs- und Revisionsgeschichte von Madama Butterfly etwa gerät die Vorstellung eines Autorwillens letzter Hand vollständig ins Wanken, während die verschiedenen Fassungen von La rondine, die um das Problem der Lösung des inneren Konflikts der Protagonistin kreisen, die unbeantwortet gelassene Turandot-Frage vorwegzunehmen scheinen. Aus dieser Perspektive heraus wäre gar der Fragmentcharakter seines letzten Werkes theoretisch sogar noch weiter auszudehnen als auf die faktisch unabgeschlossenen, nur partiell skizzierten Schlussszenen, nämlich insofern auf das ganze Werk, als ihm jene Kontroll- und Revisionsphasen auch fehlen, die Puccini gewöhnlich während und nach der Uraufführung vornahm: von Verfeinerungen etwa der Instrumentierung des Orchestersatzes bis hin zu eventuell größeren Modifikationen an den Episodenfolgen der Spielhandlung. So unabgeschlossen und unentschieden dieses ›work in progress‹ von Weitem erscheinen mag, so sehr beschreibt es doch die Grundqualität seines Opernschaffens, denn Puccinis Prüfkriterien an sein eigenes Werk lassen sich als Konstanten erkennen: emotionale Unmittelbarkeit sowie Permanenz des Attraktionsgehaltes der Spielhandlung (z. B. durch kontinuierlichen Ereignisrhythmus und Zunahme der Simultaneität verschiedener Aktionsebenen) wären hier anzuführen.
Zu diesem zentralen Problemkontext müsste eine kritische Edition von Puccinis Bühnenwerken – neben allen textphilologischen Schwierigkeiten – geeignete Darstellungsformen entwickeln wie aufführungspraktische Lösungsvorschläge anbieten. Die Realisierung eines solchen Projekts steht indes noch aus, weil ihm mehrere Hindernisse im Wege stehen: die partiellen Schwierigkeiten der Quellenzugänglichkeit (insbesondere mit Blick auf die mutmaßlich im Nachlass Simonetta Puccinis befindlichen Notenautografe) sowie urheberrechtliche und interessensabhängige Vorbehalte, vor allem die Verlegerseite Ricordis betreffend. Der grundsätzliche Interessenskonflikt besteht, wie andernorts so auch hier, zwischen wissenschaftlich-kritischem Editionsanspruch und Kompatibilität mit den Anforderungen und Bedürfnissen der Opernpraxis, welche dieses Anliegen aufgrund der Präsenz seiner Werke in praxiszementierten