»Sie wohnt seit über vierzig Jahren in derselben Wohnung am Quai de la Mégisserie. Sie war zweimal verheiratet. Und sie behauptet, dass die Dinge bei ihr zu Hause ihren Platz wechseln, wenn sie die Wohnung verlässt.«
Maigret zündete seine Pfeife wieder an.
»Zum Beispiel?«
»Bilder hängen plötzlich schief, Vasen stehen verkehrt …«
»Hat sie eine Katze oder einen Hund?«
»Nein. Aber sie lauscht gern dem Gesang der Vögel im Erdgeschoss.«
»Ist das alles?«
»Nein. Sie ist überzeugt, dass sie verfolgt wird.«
»Hat sie jemanden gesehen?«
»Nein. Eben nicht. Es ist wohl eine fixe Idee.«
»Kommt sie wieder her?«
»Es liegt ihr sehr viel daran, Sie persönlich zu sprechen. Sie sind für sie geradezu der liebe Gott, der Einzige, der sie verstehen kann. Was soll ich tun?«
»Nichts.«
»Sie kommt bestimmt wieder.«
»Dann sehen wir weiter. Du könntest aber für alle Fälle die Concierge befragen.«
Maigret vertiefte sich wieder in die Akte, mit der er befasst gewesen war, und der junge Lapointe kehrte ins Inspektorenbüro zurück.
»Ist sie wirklich verrückt?«, fragte ihn Janvier.
»Wahrscheinlich. Aber nicht verrückt im üblichen Sinn.«
»Kennst du viele Verrückte?«
»Eine Tante von mir ist in einer Nervenklinik.«
»Die Alte scheint Eindruck auf dich gemacht zu haben …«
»Ja, schon. Sie hat mich behandelt wie einen Jungen, der von gar nichts eine Ahnung hat. Sie vertraut nur Maigret.«
Am Nachmittag ging Lapointe zum Quai de la Mégisserie, wo in den meisten Läden tatsächlich Vögel und andere Kleintiere verkauft wurden. Bei dem strahlenden Wetter waren die Terrassen der Cafés geöffnet, und als Lapointe hochschaute, stellte er fest, dass die Fenster im ersten Stock offen standen. Nur mit Mühe fand er die Loge ganz hinten im Hof. Die Concierge saß in der Sonne und stopfte Männersocken.
»Zu wem möchten Sie?«
Er zeigte ihr seinen Dienstausweis.
»Können Sie mir etwas über Madame Antoine de Caramé erzählen? So heißt sie doch, oder? Die alte Dame, die im ersten Stock wohnt.«
»Jaja. Antoine ist der Familienname ihres zweiten Mannes, und darum heißt sie eigentlich nur Madame Antoine. Aber sie nennt sich Antoine de Caramé, weil sie so stolz auf ihren ersten Mann ist. Er hatte einen wichtigen Posten im Rathaus.«
»Und wie ist sie so?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ist sie nicht ein bisschen wunderlich?«
»Warum interessiert sich die Polizei auf einmal für sie?«
»Sie hat uns darum gebeten.«
»Worüber hat sie zu klagen?«
»In ihrer Abwesenheit sollen Dinge in ihrer Wohnung verrückt worden sein. Hat sie Ihnen nichts davon erzählt?«
»Sie hat mich nur gefragt, ob ich fremde Leute zu ihr hätte hinaufgehen sehen. Hatte ich nicht. Von hier aus sieht man auch gar nicht, wer kommt und geht. Die Treppe ist im Flur.«
»Bekommt sie Besuch?«
»Ihre Nichte besucht sie jeden Monat ein- oder zweimal. Aber manchmal bleibt die auch drei Monate weg.«
»Benimmt sich Madame Antoine wie ein normaler Mensch?«
»Sie benimmt sich so wie alle alten Frauen, die allein leben. Sie ist kultiviert und immer höflich.«
»Ist sie zu Hause?«
»Nein. Wenn die Sonne auch nur ein bisschen scheint, sitzt sie auf ihrer Bank in den Tuilerien.«
»Unterhält sie sich manchmal mit Ihnen?«
»Ein paar Worte im Vorbeigehen. Sie erkundigt sich vor allem nach meinem Mann. Der liegt im Krankenhaus.«
»Ich danke Ihnen.«
»Ich soll ihr wohl nicht sagen, dass Sie hier waren, was?«
»Ganz wie Sie wollen.«
»Auf jeden Fall bin ich sicher, dass sie nicht verrückt ist. Sie hat so ihre Macken, wie alle alten Leute, aber auch nicht mehr als andere.«
»Vielleicht komme ich noch mal vorbei.«
Maigret war gut gelaunt. Seit zehn Tagen hatte es nicht einen Tropfen geregnet, der Himmel war hellblau, und es wehte eine leichte Brise. In diesem perfekten Mai glich Paris einer bunten Operettenkulisse.
Maigret blieb etwas länger im Büro, um einen Bericht durchzusehen, der schon lange unerledigt herumlag und den er gern loswerden wollte. Er hörte Autos und Busse vorüberfahren, zwischendurch ertönte die Sirene eines Schleppers.
Um kurz vor sieben öffnete er die Tür zum Büro nebenan, wo Lucas mit zwei oder drei Inspektoren den Nachtdienst angetreten hatte, und verabschiedete sich.
Auf der Treppe überlegte er, ob er in der Brasserie Dauphine einen Aperitif trinken sollte. Er war noch unschlüssig, als er durch das Portal schritt, das von zwei Polizisten flankiert war, die ihn grüßten.
Schließlich machte er sich doch gleich auf den Heimweg, aber schon nach wenigen Schritten in Richtung Boulevard du Palais tauchte eine kleine Gestalt vor ihm auf, die er nach der Beschreibung von Lapointe sofort erkannte.
»Sie sind es, nicht wahr?«, sagte sie begeistert.
Sie nannte nicht einmal seinen Namen. Es konnte nur er sein, der berühmte Kommissar, dessen Ermittlungen sie in der Zeitung verfolgte. Sie schnitt die Berichte sogar aus und klebte sie in Hefte.
»Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie auf der Straße anspreche, aber oben lässt man mich nicht zu Ihnen.«
Maigret kam sich etwas lächerlich vor und konnte sich den spöttischen Blick gut vorstellen, den sich die beiden Wachtposten hinter ihm zuwarfen.
»Aber ich verstehe das, ich kann’s ihnen nicht verübeln. Man darf Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören, nicht wahr?«
Am meisten beeindruckten den Kommissar ihre blassgrauen Augen, die sehr sanft waren und doch funkelten. Sie lächelte. Man sah ihr an, dass sie im siebten Himmel war. Aber man spürte auch die außergewöhnliche Energie, die in diesem kleinen Körper steckte.
»In welche Richtung gehen Sie?«
Er deutete zum Pont Saint-Michel.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie ein Stück begleite?«
An seiner Seite wirkte sie noch kleiner.
»Sehen Sie, vor allem müssen Sie mir glauben, dass ich nicht verrückt bin. Ich weiß, was junge Leute über die Alten denken, und ich bin schon sehr alt.«
»Sie sind sechsundachtzig, nicht wahr?«
»Der junge Mann, der mich empfangen hat, hat also mit Ihnen über mich gesprochen. Er ist etwas jung für seinen Beruf, aber er ist sehr gut erzogen und sehr höflich.«
»Haben Sie lange auf mich gewartet?«
»Seit fünf vor sechs. Ich dachte, Sie würden Ihr Büro gegen sechs verlassen. Ich habe viele Herren herauskommen sehen. Aber nicht Sie.«
Sie hatte also eine ganze Stunde gewartet, ohne dass die Polizisten Notiz von ihr genommen hatten.
»Ich fühle, dass ich in Gefahr bin. Es würde doch niemand ohne Grund bei