»Zunächst müssen Sie wissen, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in derselben Wohnung am Quai de la Mégisserie lebe. Im Erdgeschoss ist eine Vogelhandlung, und wenn der Besitzer im Sommer die Käfige auf den Gehweg stellt, höre ich die Vögel den ganzen Tag lang piepsen und singen. Sie leisten mir Gesellschaft.«
»Sie haben von einer Gefahr gesprochen.«
»Ich bin ganz bestimmt in Gefahr, aber Sie werden das sicher für Geschwätz halten. Ihr jungen Leute glaubt gern, dass wir Alten nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«
»Ich denke das nicht.«
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Seit mein zweiter Mann vor zwölf Jahren gestorben ist, lebe ich allein, und es besucht mich nie jemand in meiner Wohnung. Sie ist für mich allein zu groß, trotzdem würde ich gerne bis zu meinem Tod da wohnen. Ich bin sechsundachtzig, kann mich aber selbst um den Haushalt kümmern.«
»Haben Sie ein Haustier? Einen Hund oder eine Katze?«
»Nein. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich die Vögel im Erdgeschoss singen höre. Ich wohne direkt über der Vogelhandlung.«
»Was macht Ihnen Kummer?«
»Das ist wirklich schwer zu erklären. Nun ja, in den letzten zwei Wochen haben bei mir die Dinge jetzt schon mindestens fünfmal ihren Platz gewechselt!«
»Wie meinen Sie das? Wenn Sie nach Hause kommen, sind sie nicht mehr an derselben Stelle?«
»Ja, genau. Ein gerahmtes Foto hängt schief, oder eine Vase steht nicht mehr so wie vorher.«
»Und Sie sind sich sicher, dass Sie sich nicht irren?«
»Na bitte! Weil ich alt bin, zweifeln Sie an meinem Gedächtnis! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in der Wohnung lebe. Ich weiß genau, wo alles hingehört.«
»Und ist etwas gestohlen worden? Ist etwas verschwunden?«
»Nein, Herr Inspektor.«
»Haben Sie Geld zu Hause?«
»Sehr wenig. Nur so viel, wie ich für einen Monat brauche. Mein erster Mann hat im Rathaus gearbeitet, und jetzt bekomme ich eine Witwenrente. Außerdem habe ich Ersparnisse auf der Bank.«
»Besitzen Sie Wertsachen, Bilder, Kunstgegenstände, was weiß ich?«
»An einigen Dingen liegt mir sehr viel, aber die sind nicht wirklich wertvoll.«
»Hinterlässt Ihr Besucher oder Ihre Besucherin Spuren? An einem Regentag könnten es Fußspuren sein, zum Beispiel.«
»Es hat seit zehn Tagen nicht geregnet.«
»Zigarettenasche?«
»Nein.«
»Hat jemand einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«
»Nein. Nein, es gibt nur einen Schlüssel, und der ist hier in meiner Handtasche.«
Er sah sie verständnislos an.
»Kurz, Sie beklagen sich bloß darüber, dass einige Dinge bei Ihnen zu Hause plötzlich nicht ganz genau da sind, wo sie hingehören?«
»So ist es.«
»Und Sie haben nie jemanden gesehen?«
»Nie.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer es sein könnte?«
»Nicht die geringste.«
»Haben Sie Kinder?«
»Leider nein.«
»Angehörige?«
»Eine Nichte, die ist Masseuse. Aber ich sehe sie nur selten, obwohl sie direkt am anderen Seineufer wohnt.«
»Freunde? Freundinnen?«
»Die meisten meiner Bekannten sind tot. Das ist allerdings noch nicht alles.«
Ihr Blick war fest, ihre Stimme ruhig und unaufgeregt.
»Ich werde verfolgt.«
»Sie meinen, auf der Straße?«
»Ja.«
»Und Sie haben die Person, die Ihnen folgt, gesehen?«
»Wenn ich mich umgedreht habe, waren da immer mehrere Personen. Aber ich weiß nicht, wer von denen es war.«
»Gehen Sie oft aus?«
»Morgens um acht mache ich meine Besorgungen im Viertel. Ich finde es sehr schade, dass es die Markthallen nicht mehr gibt, die waren gleich um die Ecke, und ich hatte da ein paar gute Adressen. Seitdem habe ich verschiedene Läden ausprobiert. Aber es ist nicht das Gleiche.«
»Ist die Person, die Ihnen folgt, ein Mann?«
»Das weiß ich nicht.«
»So gegen zehn Uhr kommen Sie wohl wieder nach Hause?«
»Ungefähr. Dann setze ich mich ans Fenster und putze mein Gemüse.«
»Bleiben Sie nachmittags daheim?«
»Nur wenn es regnet oder zu kalt ist. Sonst gehe ich in die Tuilerien und setze mich auf eine Bank. Ich bin nicht die Einzige, die da ihre Bank hat. Seit Jahren sehe ich Menschen in meinem Alter immer am selben Platz sitzen.«
»Und Sie werden bis in die Tuilerien verfolgt?«
»Jemand folgt mir, wenn ich meine Wohnung verlasse, als wollte man sichergehen, dass ich nicht gleich zurückkomme.«
»Haben Sie das mal getan?«
»Dreimal. Ich bin wieder in meine Wohnung zurück, als hätte ich etwas vergessen.«
»Es war natürlich niemand dort.«
»Trotzdem waren Dinge verrückt worden. Jemand hat es auf mich abgesehen. Ich weiß nicht, warum, denn ich habe nie einem Menschen ein Leid getan. Vielleicht sind es mehrere.«
»Was hat Ihr Mann im Rathaus gemacht?«
»Mein erster Mann war Bürochef. Er hatte sehr viel Verantwortung. Leider ist er früh gestorben, mit fünfundvierzig, an einem Herzinfarkt.«
»Sie haben wieder geheiratet?«
»Fast zehn Jahre später. Mein zweiter Mann war Verkaufsleiter im Bazar de l’Hôtel de Ville, in der Abteilung für landwirtschaftliche Geräte und Werkzeug aller Art.«
»Und er lebt auch nicht mehr?«
»Er war damals schon lange pensioniert. Wenn er noch lebte, wäre er heute zweiundneunzig.«
»Wann ist er gestorben?«
»Ich glaube, das habe ich Ihnen schon gesagt. Vor zwölf Jahren.«
»Hatte er keine Angehörigen? War er Witwer, als Sie ihn geheiratet haben?«
»Er hatte nur einen Sohn. Der lebt in Venezuela.«
»Hören Sie, Madame, ich werde dem Kommissar berichten, was Sie mir gesagt haben.«
»Und? Glauben Sie, dass er mich empfängt?«
»Er wird Ihnen eine Vorladung schicken, wenn er Sie sprechen will.«
»Haben Sie meine Adresse?«
»Sie steht auf Ihrem Meldezettel, nicht wahr?«
»Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Wissen Sie, ich habe solches Vertrauen in ihn. Ich glaube, er ist der Einzige, der das alles verstehen kann. Ich möchte Sie nicht kränken, aber ich finde doch, dass Sie ein bisschen jung sind.«
Er brachte sie zur Tür und durch den Flur zu der breiten Treppe.
Als er Maigrets Büro betrat, war Janvier bereits fort.
»Nun?«
»Ich glaube, Sie hatten recht, Chef. Eine Verrückte, aber eine friedliche, sehr ruhige