Sie schüttelt den Kopf. »Ich denke, Sie gehen jetzt besser«, zischt sie mir zu, während sie beruhigend ihre Hand auf seine legt und die Lehne des Bettes wieder senkt.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, stammle ich, das Foto fest gegen meine Brust gedrückt. »Auf Wiedersehen«, verabschiede ich mich, aber das Ehepaar nimmt mich nicht mehr wahr. Mit klopfendem Herzen renne ich die Treppe herunter und höre immer noch Herrn Sanders Ausrufe sowie seine Frau, die weiter beruhigend auf ihn einredet. Draußen angekommen, lehne ich mich gegen die geschlossene Haustür. Einen Moment lang schließe ich die Augen und frage mich zum wiederholten Male, was zur Hölle ich eigentlich hier mache.
8
Im Auto werfe ich einen Blick in den Rückspiegel: Ich bin kreidebleich. Mein Adrenalinspiegel sinkt langsam. Stattdessen setzt eine bleierne Müdigkeit ein, die sich in meinen Augen widerspiegelt. Am liebsten würde ich mich auf den Rücksitz legen und eine Runde schlafen, aber Frau Sander wäre bestimmt nicht allzu begeistert, mich hier in ein paar Minuten noch anzutreffen.
»Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich«, kritzele ich in mein Notizbuch und schreibe Sanders Namen in Klammern dahinter. Diese Eselsbrücke kenne ich aus meiner Schulzeit, aber warum war sie Herrn Sander so wichtig, als ich ihm das Foto gezeigt habe?
Ich hole das Bild hervor. Sanders Hand hat gezittert, aber er hat auf das Mädchen rechts außen in der hinteren Reihe gezeigt. Wenn ich mir die gewaltige Lockenfrisur wegdenke, könnte es sich um Simone Hellmar handeln. Zwischen ihr und Robert Hellmar stehen zwei weitere Jungs, aber das muss nichts heißen. Er hat gesagt, dass sein Interesse für Simone erst während des Studiums zugenommen hat. Das Mädchen ist hübsch. Ihr Lächeln ist nicht so breit wie das der anderen. Ich mache mir eine weitere Notiz, bevor ich den Motor starte und meinen Golf aus der Einfahrt der Sanders herausmanövriere. In der ersten Etage wird ein Vorhang bewegt, Frau Sander sieht mir nach. Wahrscheinlich will sie sichergehen, dass ich wirklich wegfahre.
Jetzt, wo ich in Niederlaasphe bin, kann ich meine Zeit nutzen und einen der Tatorte unter die Lupe nehmen. Nach zehn Jahren erhoffe ich mir nicht mehr, konkrete Hinweise zu finden, so naiv bin ich nicht. Aber oft hilft es, einen Tatort selbst zu besuchen, um sich in den Täter hineinzuversetzen.
Die Amalienhütte in Niederlaasphe war ursprünglich ein Eisenwerk. 1847 wurde das Gelände von Amalie Jung erworben, der es seinen Namen verdankt. Bis zu fünfhundert Arbeiter waren hier in den sechziger Jahren beschäftigt, bis der Betrieb 1975 stillgelegt wurde. Einige Gebäude und einer der Transformatoren sind erhalten geblieben. Auch ein Café befindet sich auf dem Gelände. Mich interessiert vor allem der Weiher, der noch immer dazu genutzt wird, kleine Turbinen anzutreiben und so zu veranschaulichen, welchen Zweck die Amalienhütte früher erfüllte.
In diesem Weiher wurde Gisela Schröter, das zweite Opfer, ertränkt. Der Zeitraum war perfekt gewählt: Museum und Café sind von April bis September nur am letzten Sonntag im Monat geöffnet. Hellmar hatte also mit Sicherheit keinen Sonntag für sein Vorhaben gewählt. Zum Zeitpunkt des Mordes konnte er sich darauf verlassen, dass sein Opfer bald, aber nicht zu bald gefunden würde. Das Risiko, bei seiner Tat gestört zu werden, war dennoch vorhanden: Wanderer und Spaziergänger sind auf dem Gelände permanent unterwegs. Zudem liegt es direkt an der Hauptstraße. Es muss Lärm verursacht haben, Gisela Schröter unter Wasser zu drücken. Die Schreie, das Platschen und Spritzen, als sie sich wehrte und mit Armen und Beinen um sich schlug. Selbst die Aufmerksamkeit von ein paar Wanderern hätte gereicht, um den Mord zu verhindern. Aber Hellmar hatte Glück.
Bei dem Schild, das zum Industriemuseum weist, biege ich ab und stelle mein Auto auf dem großen dazugehörigen Parkplatz ab. Ich laufe zum Weiher und ignoriere die Tatsache, dass meine Schuhe im Schlamm einsinken und der Saum meiner Jeans sich vollsaugt. Ich muss näher ran.
Jetzt, Anfang Februar, ist ein Teil des Wassers gefroren. Ein Schild weist darauf hin, dass das Betreten der Eisfläche verboten ist. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater immer wieder geduldig darauf zeigte, wenn wir am Wochenende hier spazieren gingen und ich unbedingt die kleine Böschung hinunterrutschen wollte. Wie alt war ich zu dieser Zeit? Neun oder zehn? Statt der Rutschpartie auf der Eisfläche gab es heißen Kakao aus der Thermoskanne, die mein Vater auf einer der Bänke bereitgestellt hatte, bevor wir weiter den Weiher entlangliefen, in Richtung der Bahnschienen, über die wir kletterten, um zum Planetenlehrpfad zu gelangen. Meistens war ich an dieser Stelle schon so durchgefroren, dass wir kehrtmachten und zum Auto zurückgingen. Erst im Sommer sollten wir weiter den Weg entlangspazieren zur Tafel am Ende des Pfades. »Du bist das einzige Kind, das so nah an die Sonne herankommt und trotzdem heller strahlt«, sagte mein Vater. Mein Lächeln wurde daraufhin noch breiter. Zum Schluss gab es meistens ein Eis, wenn wir zurück in Laasphe waren.
Einen Moment lang lasse ich die Erinnerungen an diese Ausflüge mit meinem Vater zu. Dann verjage ich die Bilder und konzentriere mich wieder auf den Weiher vor mir: Eine dreiköpfige Familie, die ihren Sonntag im Museum und anschließend im Café verbringen wollte, hat die Leiche damals, am 11. Mai, entdeckt. Der Sohn war mit seinen fünf Jahren vor allem an dem kleinen Wasserrad interessiert. Der Fluss strömte über Gisela Schröters leblosen Körper, der bäuchlings im Weiher trieb. Ihre Beine hatten sich in Baumwurzeln verfangen, die ins Wasser ragten. Die Familie alarmierte die Polizei.
Nachdem Hellmar die Frau ertränkt hatte, war ihr Leichnam erst Wochen später zurück an die Oberfläche getrieben worden. Das Ermittlerteam hatte damals Glück, dass das Opfer überhaupt gefunden wurde: Die Temperatur im Weiher war eisig. Es dauerte ewig, bis der Verwesungsprozess einsetzte und der Körper wieder auftauchte. Mein Vater und sein Team fanden am Grund des Weihers einen Sack mit Steinen, den Hellmar an die Beine seines Opfers gebunden hatte. Völlig rekonstruieren ließ sich der Tathergang nicht, doch die zuständige Pathologin errechnete damals, dass Gisela Schröter Anfang Februar ermordet worden sein musste.
Ich stutze. Anfang Februar? Als ich hektisch in meinem Notizbuch auf die richtige Seite blättern will, rutscht es mir aus der Hand und fällt mir auf den matschigen Boden. Fluchend hebe ich es wieder auf und wische es an meiner Jeans ab, die ein Fall für die Wäsche ist.
»Geduld, Caro«, murmele ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und schlage die Seiten vorsichtiger um. Da ist sie: die Auflistung der Mordopfer. Warum ist mir das vorher nicht aufgefallen? Jetzt bin ich mir sicher, welche Frage ich Hellmar stellen werde.
9
Mittwoch
Am nächsten Morgen geht es Hellmar immer noch nicht besser. Man verspricht mir, dass er Ende der Woche wieder Besuch empfangen darf. Es ist unerträglich für mich, diese Frage auf der Zunge zu haben und sie niemandem stellen zu können.
»Du konntest noch nie ruhig am Tisch sitzen«, reißt meine Mutter mich aus meinen Gedanken. Wir sind zusammen beim Frühstück. Sie war alles andere als begeistert, dass ich hier in Laasphe einen Auftrag erhalten und deswegen nicht wie erwartet Urlaub habe. Wie ich meine Zeit ihrer Meinung nach besser hätte verbringen sollen, weiß ich nicht. Doch sie hat wahrscheinlich gehofft, dass ich sie nutze, um zur Ruhe zu kommen und eben nicht mehr pausenlos rumzuzappeln. Ich verschweige ihr, auf welchen Fall ich angesetzt wurde. Es reicht, wenn ich mich mit den Geistern der Vergangenheit herumschlagen muss.
»Heute ist es besonders schlimm«, fährt sie fort. »Am liebsten würde ich dir deinen Kaffee wegnehmen und dir stattdessen einen Beruhigungstee geben.«
»Es geht mir gut«, erwidere ich, ziehe die Tasse jedoch sicherheitshalber ein Stück näher an mich heran.
Sie öffnet den Mund, überlegt es sich dann aber anders. »Was hast du heute vor?«
»Ich fahre auf die Polizeiwache und recherchiere weiter. Habe ich dir erzählt, dass Alex dort arbeitet?«
Meine Mutter reißt die Augen auf und verschluckt sich an ihrem Kaffee. Ich springe auf und klopfe ihr auf den Rücken.
»Unser Alex?«, keucht sie.
»Ja, Alex«, bestätige ich. Die Zurechtweisung, dass er schon lange nicht mehr unser Alex ist, spare ich mir.