Wittgensteiner Schatten. Sandra Halbe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Halbe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416821
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dann so lieblos zurückgelassen, Ihre Frau aber auf ihrem Bett hergerichtet, als würde sie schlafen?«

      Lächelnd schüttelt Hellmar den Kopf. »Ich fürchte, dass ich Ihnen jetzt eine Frage stellen darf. Morgen können Sie mich dann mit Ihren Fragen bombardieren.«

      »Legen Sie los.«

      »Fangen wir mit einer leichten Frage an«, beginnt Hellmar. »Haben Sie jemanden, mit dem Sie zusammen sind? Hier oder in Wiesbaden?«

      »Was geht Sie das an?«

      »Kommen Sie schon. Ich möchte nichts Intimes wissen, sondern nur, ob Sie einen Partner haben, dem Sie vertrauen und für den Sie das ein oder andere auf sich nehmen würden. Dann könnten Sie mich besser verstehen.«

      »Da gibt es niemanden. Im Moment gibt es nur meine Arbeit.«

      »Die Ihnen gerade keinen besonderen Spaß zu machen scheint, wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute.«

      In diesem Augenblick öffnet sich die Tür, und ein Vollzugsbeamter informiert uns, dass die Besuchszeit beendet ist. So kann ich mir wenigstens meine Antwort sparen. »Morgen wieder um acht«, informiere ich Hellmar und lasse mich nach draußen begleiten.

      Auf dem Nachhauseweg denke ich an Alex. Ich habe versprochen, mich bei ihm zu melden, aber nach Hellmars Frage brauche ich einen Moment, um mich zu fangen. Ich weiß, warum dieser Mann mir so zusetzt, doch das muss aufhören, sonst halte ich die Befragungen nicht durch. Mein unprofessionelles Verhalten hat dafür gesorgt, dass ich zurzeit nicht beim BKA arbeite. Ansonsten wäre ich erst gar nicht hier. Ich muss das in den Griff bekommen.

      Ich kann die besorgten Blicke meiner Mutter noch nicht wieder ertragen. Es wird schon dunkel, doch am Friedhof fahre ich den Wagen rechts ran und steige aus. In der Dämmerung muss ich ein paar Minuten lang suchen, bis ich das Grab gefunden habe. Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier. In der Vase befinden sich frische Blumen. Meine Mutter kümmert sich nach wie vor liebevoll um meinen Vater. »Ernst König«, steht auf dem Stein. Er wurde nur zweiundsechzig Jahre alt, ist viel zu jung gestorben. Das nächste Mal bringe ich auch Blumen mit.

      Plötzlich schießt mir ein Bild in den Kopf: ein paar Veilchen auf dem Grab, ein paar Wochen nach der Beerdigung, die Kränze und ersten Blumen waren verwelkt und bereits weggeräumt. Die Veilchen waren frisch. Zu jener Zeit besuchte ich das Grab meines Vaters jeden Tag, sodass sie mir direkt auffielen. Meine Mutter wollte erst am Wochenende neuen Grabschmuck besorgen. Wie kamen die Blumen dann hierher? Ich sah auf und ließ meinen Blick über den Friedhof schweifen. Im ersten Moment konnte ich niemanden erkennen, doch dann entdeckte ich eine Gestalt, einen Mann, hinten am Zaun. Anscheinend wurde ich beobachtet. Als ihm klar wurde, dass ich ihn gesichtet hatte, drehte er sich um und entfernte sich mit raschen Schritten, sodass ich ihn unmöglich einholen konnte. Es war Spätsommer, und die Abenddämmerung hatte gerade begonnen, ich musste die Augen zusammenkneifen, um in der Ferne etwas zu erkennen. Auf diese Distanz konnte ich nicht hundertprozentig sicher sein, aber ich hätte schwören können, dass es Alex war, der mich dort mit seinen Blumen zurückließ.

      »Wann genau wolltest du mir erzählen, dass Hellmar einen Seelenstrip als Gegenleistung für seine Informationen verlangt?«, frage ich, als ich, zu Hause angekommen, Alex anrufe.

      »Er hat gesagt, dass er sich mit jemandem unterhalten will. Dass er damit nicht nur seinen Fall meinte, war mir nicht klar«, antwortet er ausweichend.

      »Versuch nicht, mich zu verarschen, Alex, du lügst. Ein bisschen kennen wir uns, vergiss das nicht. Warum setzt du dich nicht selbst ihm gegenüber und lässt dich über dein Liebesleben ausfragen, damit er dir erzählt, was vor zehn Jahren passiert ist?«

      »Es tut mir leid«, kommt es nach einer kurzen Pause aus dem Hörer. »Ich hatte Angst, dass du dann nicht hinfahren würdest.«

      »Wahrscheinlich hättest du damit recht gehabt«, gebe ich zu.

      »Ich bekomme ziemlichen Druck von oben, wie du dir vorstellen kannst. Auf einmal kommt den Herrschaften, die seit damals die Karriereleiter hochgeklettert sind, der Gedanke, dass sie einen Fehler gemacht haben könnten. Deinen Vater könnte man in diesem Fall nicht mehr belangen, also sollen andere Köpfe rollen.«

      »Mein Vater hat keinen Fehler gemacht«, wehre ich ab, »und vergiss nicht: Hellmar hat gestanden.«

      »Ich wollte dir nur erklären, dass man mich wegen dieser Morde in die Mangel nimmt.« Alex seufzt. »Wie seid ihr verblieben?«

      »Ich lasse mich auf das Spielchen ein.«

      Er atmet erleichtert aus. »Danke, Caro. Du rettest mir echt meinen Arsch.«

      »Freu dich nicht zu früh«, unterbreche ich ihn. »Wenn er mir zu weit geht, stehe ich auf und gehe, auch wenn ich überhaupt nichts rausgefunden habe.«

      »Verstanden.«

      »Gut. Die Gespräche mit Hellmar werden wahrscheinlich ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Ich bleibe solange bei meiner Mutter. Du hörst wieder von mir. Ich komme so bald wie möglich vorbei, um die Akten abzuholen.«

      »Okay, danke. Und, Caro?«

      »Ja?«

      »Es gibt kein Liebesleben, über das Hellmar mich ausfragen könnte.«

      Meine Mundwinkel heben sich. Zum ersten Mal heute bringe ich ein Lächeln zustande. »Bei mir auch nicht«, antworte ich und hoffe, dass das bei ihm eine ähnliche Reaktion hervorruft. Dann lege ich auf und mache mich auf den Weg in die Küche. Vielleicht sind ein paar von den Nudeln übrig, die ich Sonntagmittag verschmäht habe. Auf einmal habe ich Hunger.

      6

      Dienstag

      »Willkommen zurück, Frau König«, begrüßt Hellmar mich am nächsten Tag. »Ich habe mich gefragt, ob ich Sie wiedersehen würde.«

      »So schnell werden Sie mich nicht los.« Ich setze mich ihm gegenüber. Heute gibt es sogar Kaffee aus einer Thermoskanne. Anscheinend haben die Vollzugsbeamten nach dem gestrigen Gespräch Vertrauen zu Hellmar gefasst und denken nicht, dass er mir oder sich Schaden zufügen würde. Das Gebräu ist nur lauwarm und schmeckt scheußlich. Ich verziehe das Gesicht und schiebe den Plastikbecher von mir weg. Hellmar scheint zu wissen, was ihn erwartet. Er hat seinen Kaffee erst gar nicht angerührt.

      Ich habe gestern Abend lange überlegt, womit ich unser Gespräch beginnen werde. Tausende Fragen sind wie Fliegen durch meinen Kopf geschwirrt. Ich habe sie alle aufgeschrieben und versucht, sie nach Wichtigkeit zu ordnen. Immer wenn ich dachte, dass eine Frage Priorität hat, drängte sich wieder eine andere in den Vordergrund. Der Zettel mit meinen Notizen landete im Müll. Stattdessen habe ich die halbe Nacht an die Decke gestarrt. Deswegen sitze ich Hellmar jetzt wieder so planlos gegenüber wie gestern, ein leeres Notizbuch vor mir aufgeschlagen, hundemüde, in der Hoffnung, dass meine Intuition mich nicht im Stich lassen wird. »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau Simone«, bitte ich ihn.

      Hellmar zieht die Augenbrauen hoch. Er wirkt überrascht. »Was wollen Sie wissen?«

      »Alles, was Sie mir mitteilen wollen. Wie haben Sie sich kennengelernt?«

      Hellmar hat den Mord an seiner Frau gestanden. Ich weiß, dass ich mich auf die drei vorherigen Morde konzentrieren sollte, die, zu denen offiziell nie eine Verbindung bestand. Aber ich kann es nicht ändern: Der letzte Mord scheint mir der wichtigste zu sein. Deswegen möchte ich alles über die Beziehung der Hellmars erfahren.

      »Simone und ich haben einander in der Schule kennengelernt. Zu dieser Zeit haben wir aber eher nebeneinanderher gelebt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Während des Studiums wurde aus unserer Freundschaft dann mehr. Wir haben beide in Marburg studiert, ich BWL und sie Medizin. Sie hatte einen kleinen Kredit aufgenommen, um sich vor Ort eine Wohnung leisten zu können. Ich nahm jeden Tag den Zug von Laasphe aus und fuhr abends nach den Vorlesungen wieder zurück. Bis ich irgendwann angefangen habe, bei ihr zu übernachten. Sie hatte eine winzige Wohnung, aber wir beide brauchten ja nicht viel Platz.« Bei dem Gedanken an diese gemeinsamen Nächte bilden sich viele kleine Lachfalten um Hellmars Augen herum.