Sie schien in der Tat sowohl mir als auch meinem Vater eine sehr willkommene und preiswerte zu sein.
Es wurde nun verabredet, daß mein Vater noch einen Tag in Hamburg bleiben würde. Nach seiner Abreise sollte ich unter Kerners Aufsicht und auf seine Kosten so lange im Hotel wohnen, bis der Dampfer nach Le Havre abginge, der mich und einige meiner zukünftigen Kollegen bzw. Vorgesetzten zu dem großen eisernen Vollschiff »Elli« bringen würde.
Der letzte Tag des Zusammenseins mit meinem Papa war überaus freundlich verlaufen. Mein Vater hatte mir viel herzliche Wünsche und gute Ratschläge ans Herz gelegt, die am Abend in dem Moment, mit dem meine Erzählung begann, durch jenen Händedruck nochmals bekräftigt wurden. Wir schliefen gleich darauf ein oder waren wenigstens still. Es mag sein, daß mein rührend guter Vater in Gedanken an die Zukunft seines Jüngsten nicht gleich Schlaf fand. Ich jedenfalls konnte noch lange nicht einschlafen.
Die bald dumpfen, bald kreischenden Stimmen der Nebelhörner und Pfeifensignale, welche die Nacht durchzogen, waren eine neue, reizvolle Musik für mich, die in meinem unerfahrenen Gemüt ein berauschendes Gefühl, ein Ahnen von dem großen Treiben der Welt erzeugte.
Am andern Morgen brachte ich meinen Vater zur Bahn.
Das Schwere des Abschieds, das ich empfand, machte – wie gewöhnlich in solchem Alter – bald dem glücklichen Empfinden Platz, zum erstenmal ganz frei und auf sich selbst angewiesen zu sein.
Als ich bei Kerner vorsprach, empfing mich dieser mit einer auffallend plötzlichen Gleichgültigkeit. Mein dadurch gegen ihn hervorgerufenes Mißtrauen sollte bald weitere Nahrung finden.
Nach dem Mittagessen, das ich mit dem Hotelwirt und einem alten, griesgrämigen Kapitän einnahm, wurde gefragt, ob ich damit einverstanden wäre, daß man mich wo anders unterbrächte. Es wären zwei neue Gäste gekommen. Mein Zimmer sei das einzige mit zwei Betten, und überdies würde ich in meinem neuen Logis mit anderen Seeleuten Zusammensein.
Damit einverstanden, machte ich mich sogleich auf den Weg nach dem neuen Quartier.
Dieses befand sich im ersten Stock eines engen, morschen Hauses in einem Gäßchen des Hafenviertels. »Hermann Krahl« stand vor der Etagentür auf einem blinden Messingschild.
Ich wurde von irgend jemandem in ein Zimmer gewiesen, aus dem schon von weitem ein wüster Lärm drang. Noch wüster aber sah es in dem Raum selbst aus.
In einem länglichen Zimmer standen: ein roher Holztisch, eine ebensolche Bank und das ganz traurige Gerippe eines ehemaligen Kanapees ohne Überzug. Das war das ganze Mobiliar. Im übrigen fiel mir noch ein riesiger Panamahut von der Größe eines Wagenrades auf, der an der Wand hing, sowie ein junges, ausgestopftes Krokodil, das, auf dem Kopf stehend, wie ein Spazierstock in der Ecke lehnte.
Ein dicker Tabaknebel von süßlichem Geruch benahm mir fast den Atem, und in dieser Atmosphäre vollführten etwa vierzehn Jungens meines Alters und, wie ich, in blauer Schiffsjungenkleidung einen Heidenlärm.
Der Kaffee schien eben serviert zu sein. Wenigstens stand auf dem Tisch eine Anzahl wenig appetitlicher Blechbecher mit schwarzem Inhalt
Die blauen Jungen tranken das Getränk aber nicht, sondern sie setzten die gefüllten Becher vorsichtig ineinander bis zu einer hohen Säule. Dann schlug einer mit der flachen Hand auf den obersten Becher, so daß der Kaffee nach allen Seiten durch das Zimmer spritzte, worauf die Jungen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. In diesem Moment trat ein untersetzter Mann mit starkem Schnurrbart herein, der wie ein Arbeiter aussah. Er stotterte etwas von »Schweinerei« und »aus dem Hause werfen«, ergriff dann einen der Übeltäter und erteilte ihm gewaltige Ohrfeigen. Das schien hier aber nichts Ungewöhnliches zu sein, denn die andern nahmen fast keine Notiz davon.
Ich beobachtete, daß die Blauen den Bärtigen mit Papa anredeten und daß er der Herr des Hauses, Krahl, war.
Inzwischen hatte ich mich, etwas eingeschüchtert, meinen Kameraden genähert und wurde nun bald mit ihnen vertraut. Sie waren aus allen Windrichtungen zusammengekommen. Von Kerner, der sie ausgerüstet, erklärten sie einstimmig, daß er der größte Schwindler und Schuft auf Erden sei, daß er ganz unbrauchbare Ausrüstungen liefere, seine Jungen seinem Versprechen zuwider nur auf ganz kleine, schlechte Schiffe brächte und sie vorher oft monatelang in der liederlichen Herberge von Krahl warten ließe, wo man vor Hunger, Schmutz und Langeweile fast umkäme. In der Tat privatisierten einige der Blauen dort schon acht Monate und länger, natürlich auf eigene Kosten. Mehrere hatten auch schon Reisen mitgemacht und waren inzwischen zu Leichtmatrosen oder Matrosen avanciert. Sie genossen besonderes Ansehen bei den übrigen und waren sich dessen recht bewußt. Mich behandelten sie als Neuling und bedeuteten mir auf meine endlosen, wißbegierigen Fragen, ich solle mir mal nicht zu viel von der »christlichen Seefahrt« versprechen; ich würde sie, wie alle Binnenländer, sehr schnell satt bekommen und sollte lieber wieder nach Hause »zu Muttern« fahren. Sie ließen sich übrigens am Abend herab, mich in die »Feuchte Ecke«, eine Matrosenspelunke, mitzunehmen, wo sie auf meine Kosten, und ohne sich weiter um mich zu kümmern, zwei Stunden Billard spielten. Geld hatte keiner von den Krahlsjungen.
In dem Schlafzimmer, wo wir übernachteten, sah es übel aus. Da standen nebeneinander mehr oder weniger zerbrochene Betten, unordentlich, schmutzig und durchwühlt, denn die Jungen waren am Tage mit ihren Stiefeln darüber gelaufen.
Eigentlich gefiel mir diese wüste Wirtschaft anfangs. Sie schien mir ein interessanter Vorgeschmack von dem freien, tollen Leben, das ich mir von meinem Beruf erhoffte. Nur der Gedanke, daß ich am nächsten Tage vielleicht doch nicht wie versprochen an Bord kommen würde, stimmte mich traurig.
Am andern Morgen aber ließ mich Kerner in seinen Laden holen. Dort standen bei meinem Eintritt mehrere andere Schiffsjungen wartend umher und schimpften laut. Kerner nahm aber keine Notiz davon, sondern verhandelte sehr geschäftig mit einem Italiener.
Ein langer Herr mit einer Glatze schaffte meine Ausrüstungsgegenstände in eine Droschke, die draußen wartete. Darauf wandte sich Kerner zu mir, gab mir mit einem halb freundlichen, halb boshaften Lächeln die Hand, und nach diesem Abschied stieg ich mit dem Glatzkopf in die Droschke. Fort rasselten wir.
Über holpriges Pflaster ging's. Mir war sehr beklommen zumute, und die Lustigkeit des Herrn Schütt – so hieß mein Begleiter – konnte mich nicht anstecken. Sein Lächeln hatte etwas sehr Ironisches.
Bald kamen wir in das Freihafenviertel. Über Brücken hinweg. – Links und rechts zeigten sich die für Hamburg charakteristischen Fleete. Vor den langen Lagerhäusern standen große, eiserne Kräne. Arbeiter, Packer, Kutscher, Zollwächter waren überall lärmend beschäftigt.
Plattdeutsche Laute, Schimpfworte, Kommandos und Pfeifensignale drangen an mein Ohr. Aber alles, was ich sah, war mir fremd und abstoßend. Trotz des Lärms kam mir diese Umgebung so drückend schwül und so öde vor, daß ich – waren es die entmutigenden Reden meiner Krahlschen Kameraden oder ein gewisser Instinkt – ein Gefühl von zukünftigem Ärger und Enttäuschung hatte.
Nun hielten wir am Petersenkai vor einem Dampfer. Meine Sachen wurden an Bord gebracht, Schütt sagte mir Lebewohl, und dann stand ich allein auf dem französischen Schiff »Thérèse et Marie«.
Man wies mir einen Raum an, worin ich während der Überfahrt nach Le Havre wohnen sollte. Deutsche Matrosen, die mit mir auf die »Elli« kommen sollten, nahmen mich in Empfang und schafften meine Sachen in den Zwischenraum; so nannten sie den Ort, wo wir zwischen Kisten und Ballen, selbst Versandgütern gleich, einquartiert wurden. Dann nahmen sie mich mit an Land in eine Kneipe, wo man Bier aus Flaschen trank. Einer bezahlte eine Runde Bier, und ich verteilte dafür Zigarren.
Ich kam mir auf einmal recht männlich und stark vor, als ich so unter den derben Gestalten stand, ihre rohen Späße hörte und mich bemühte, es ihnen im Trinken möglichst gleich zu tun. Sie wollten sich über meinen hohen Stehkragen totlachen und zogen aus ihm den Schluß, daß ich von feinen Leuten wäre. Sie ließen sich auch von mir erzählen, wie ich auf den Gedanken gekommen sei, zur See zu gehen, und