Eine Macht, über die sie keine Gewalt hatte, warf sie aus qualvollen Jubeln in stumpfe Ängste. Ihrer Leidenschaft fehlte die Kraft der Zerstreuung, der gesunde Rückhalt eines gewöhnlichen Lebens, in dem die Seele ausruhen kann, wie der meermüde Sturmvogel auf der Sandbank.
Sie war wie nackt; nichts folgte ihr in die Glut. Immer weiter ward sie von allem und allen um sie abgeführt. Vor den gütigen, derben Worten der Mutter, deren Liebe nur den Schlag in ihre Wunden kannte, floh sie. Allein immer kehrten doch ihre Augen von jenen rätselhaften Gestaden ihrer innersten Seele zurück; immer fand sie sich wieder auf dem Wege von der Küche zur Wohnstube, auf dem Boden, in dem alten Zimmer und nie doch traf sie ihre Heimat in ihrem Heim.
Und nie erstarrte sie in der Glut oder dem Taumel der Dumpfheit. Zum Wahnsinn war sie nicht stark und nicht schwach genug.
8
So fuhr sie allmählich in eine immer mehr zunehmende Enge.
Sie saß oft in einem rein körperlichen Wogen da, ganz hingerissen und erschöpft von diesem wollüstigen Zustande. Auch im Gehen überfiel sie das. Wenn sie dann die Straßen hinschritt, bekamen die grauen, langweiligen Häuserfronten einen schönen Glanz. Ihre Scheiben schillerten. Wie tanzend schritten die Leute ein und aus. Und sie horchte gespannt auf alle Worte, die sie redeten, denn alle Menschen trugen den Zug der Güte und Freundlichkeit.
Ein Dienstmädchen, mit einem roten, lachenden Gesicht, wie sie, einen Korb am Arm tragend, hüpfte über die Straße und summte ein Lied zwischen den Zähnen.
Leonore empfand zu dem fremden Mädchen eine so heftige Zuneigung, daß sie, ihre Schritte beschleunigend, ihr zurief.
Das Mädchen blieb stehen, nickte freundlich und frug:
„Na, gudn Morjn, Frau Griebel?!“
„Ach Sie sind’s, de Pauline von Heinzeln?“
„Jå, jå, kenn’ Sie mich au?“
„Ach nu freilich, ich bin Ihn’ zu gut.“
Das Mädchen errötete und verstummte. Dann sagte sie sehr befangen:
„Jetz muß ich aber machen, daß ich fortkomme, sonst schempft meine Frau. Adje, Frau Griebel.“
„Adje, Pauline, aber singen Se weiter, singen Se!“ rief Leonore hinter ihr her und schaute ihr voll Glücksgefühl nach, durch dessen Licht, wie verwehende Nebelfäden, Wehmut zog. Nee so ein junges, lustiges Mädl, ach je nee, nee, das is wohl was scheenes, dachte sie bei sich.
Ein anderes Mal kam sie vom Ringe und schritt die breite Kirchstraße herunter. Ein beißender Nordwind stürzte sich in die Straßen. Darum hielt sie sich auf dem linken Bürgersteig. Als sie beim Böttcher Meergans angekommen war, wo die schmale, dunkle Wassergasse einmündete, lenkte sie ihre Blicke dahin. Die Gasse sah eben wie ein dämmriger Schlund aus, weil der Wind, in dessen Richtung sie gekrümmt lag, mit unruhigen, stoßend einsetzenden Wirbeln den Schnee darin zu Wolken zerblies. Ein eisiger Staub drang ihr in die Augen, daß sie sie schließen mußte. Als sie nach Momenten die Lider wieder heben konnte, weil der Windstoß vorüber war, sah sie ein liebliches Bild. Ein etwa fünfjähriger Knabe, in allerhand Tücher eingepackt, daß er wie ein Bündel aussah, führte ein kleineres Mädchen an der Hand. Er trug irgend etwas in ein rotes Taschentuch eingeknüpft und sah besorgt auf seine Gefährtin, die er hin- und herleitete, damit ihre Füßchen nicht in zu tiefen Schnee treten sollten. Sobald ein neuer Windstoß mit hohem Heulton aus den Dachrinnen sich anmeldete, legte das Knäblein sein Pack auf die Erde und umschlang das kleine Mädchen mit beiden Armen, um sie vor dem Umfallen zu schützen. Das war ein Jubel für die beiden. Sie schrien ein glückliches Lachen in den Lärm, und wenn die Gefahr vorüber war, fielen sie sich um den Hals und küßten sich lange. Leonore schlug das Herz vor freudiger Überraschung, daß sie sich nicht bewegen konnte.
Der Böttcher trat aus dem Hause.
„Gu‘n Morj‘n, Frau Griebeel! Gelt die sein reen wie a påår Liebesleite. Dar Kleene macht’s rechich schinner. wie månchmål a Ales. s is Gåssmånn Schneidersch Junge und Schmieds Lenla.“ Die Angeredte lächelte zerstreut und ging dann mit behutsamen Schritten davon. Sie hielt sich dicht an den Häusern und ihre Rechte griff haltend nach den Mauern, denn sie war taumlig und murmelte fortwährend verzückt vor sich hin:
„Sie küssen sich . . . wie sie sich küssen . . . sie küssen sich gar zu scheen . . . gar zu scheen küssen se sich . . .“ Dann las sie alle Firmenschilder. Sie schienen einen wundervollen Sinn zu haben. „Johann Laufer, Seiler. Karl Nieder, Gutes Sauerkraut, Landbrot, Vollheringe“, und sie glaubte diese alltäglichen Worte nicht und konnte doch auch das Frohe und Große nicht herausfinden, das hinter all diesem leuchtete.
In der Nähe der Straßenecken hatte sie die Empfindung, daß jemand von der anderen Seite kommen, sie umarmen und das Liebste nennen werde, was auf Erden sei. Darum verlangsamte sie ihre Schritte, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Aber die meisten Leute gingen gleichgültig vorüber. Manche grüßten wohl freundlich und Bekannte drückten ihr herzlich die Hand. Aber das war doch alles nicht das Schöne und Beglückende, das hinter der Ecke auf sie gewartet hatte. So erblindeten nach und nach alle Augen in Leonore; nur eines blieb offen.
An einem Nachmittage gegen vier Uhr riß sie die Küchenthür auf, lief bis in die Mitte des Raumes und sah forschend umher. Ihre Augen waren von heißer Erwartung weit geöffnet, und die Wangen glühten.
„Wås sucha S‘ ‘n?“ frug Anna, die eben Geschirr in den Schrank stellte und sah ihre Herrin über die Achsel an.
„Nu, ich hab’s doch genau gehört.“
„Wås denn?“
„Er muß hier reingegangen sein.“
„Ach de Uhre is ganga, sonst nischte.“
„Ich hab’s gehört. Es machte ‘s Tor auf, kam iber die Treppe rauf, hielt oben ein wing, als obs iberlegte, und dann kams mit langen leichten Schritten . . .“
„Nu, — langen, leichten — säta Se nie a so, langen leich . . . haha! — De Anna is vrhin barfissig im Flure afier ganga.“
„Nein, s war ein Mann!“
„Na Frau, etz sein Se åber bale stelle. Nu verstieh ich Se. Ein Mann?! — Ich hå keen‘n Schatz nie. Oan wenn ich een’n hätt, dåweßt ichs doch, dåß sichs nie scheckt, wenn er åm Taje zum mr kemmt. — Oder wessa Sie ‘s etwan besser, dås ich een’n Schåtz hå?“
„Aber, Anna, so was. Wer wird denn von einem Schatz sprechen, so was? Schäm dich!“
Und während Leonore diese Worte stotternd sprach, war es ihr, als müsse sie umfallen, so brauste ihr Blut. Sie konnte vor Scham Anna nicht ansehen und floh aus der Küche.
„Wer soll sich schama?“ schrie dadurch ermutigt, die streitsüchtige Magd, „ich etwan? Hähähä, ich hå keen‘n Mån nie gehärt, ich n i e . . . .“
„Gieh åch,“ setzte Anna fort, als sich hinter ihrer Herrin die Thür geschlossen hatte und überließ sich ganz ihrer Wut. D, s wår de hechste Zeit, ich hätt dr sonst Beene gemacht . . .“
Plötzlich brach sie ab und ließ die rechte Faust sinken, die sie gegen die geschlossene Thür geschüttelt hatte. Dann starrte sie vor sich hin mit einem Gesichtsausdruck, der aus Schreck sich langsam zum Hohne verwandelte.
„Ha, dås?“ murmelte sie dabei. „Ach nu, warum kennde dås nie sein! Er is a aller plumpscher Drehdichlangsam und sie is flink un just wie a Gevatterla. Då is doch ålls meglich — — nu, uffpåssa wer ich.“
Sie hörte die gegenüberliegende Wohnstubenthür gehen und begab sich schleunigst wieder an den Schrank,