Der Herr Stiftsprediger sitzt ganz versunken da, er hat sie kaum angesehen während ihrer Erzählung, und doch, wie er den Kopf herunter hängt und auf seine Hände blickt, da fühlt man wohl, daß er jedes Wort hört und daß sein Zuhören einen nicht stört. Und nun sieht er auf, und seine Augen sind nicht mehr traurig, nein, gar nicht.
»Rosmarie, Sie müssen die Worte Jesu, auch wenn Sie die Geschichte erzählen, wie sie Ihnen im Herzen aufgegangen ist, nie verändern. Halten Sie fest an den Worten, man muß sie so wiedergeben, wie Luther oder die andern großen Übersetzer sie uns gegeben haben. Wenn Sie einmal die Matthäuspassion von Bach hören, ich möchte es Ihnen wünschen, es wird Ihnen eine ganz neue Welt aufgehen, so werden Sie hören, daß die Worte Jesu, die gesungen werden, stets von den zartesten Geigentönen begleitet, wie mit Gold umwoben sind. Da hat ein großes Herz den innigsten Ausdruck für seine Andacht und Liebe gefunden. Denken Sie daran, wenn Sie ein Wort Jesu wiederholen. Diese Worte bringen ihre himmlische Melodie schon mit sich, wir können nur daran verderben. – Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
Und Rosmarie wiederholt: »Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
»Und nun wollen wir uns einen Plan machen, damit Sie auch erfahren, was uns die alten Juden gegeben haben.«
Am Abend kommt das Seelchen zu ihrem Vater, um gute Nacht zu sagen.
»Und wie ist's dir heute morgen ergangen?«
»Ich war sehr dumm und Herr Stiftsprediger war sehr traurig zuerst. Dann habe ich ihm einen Aufsatz über den kleinen Jesus gesagt, den ich einmal in mein blaues Heft geschrieben habe. Das ist nicht für den Herrn Präzeptor, und da darf ich alles hineinschreiben, was mich freut. Und das liest Harro jedesmal, wenn er kommt, und fragt: ›Was steht Neues in dem blauen Heft?‹ Harro ist sehr klug, Papa, aber den argen Fehler, den ich gemacht habe, hat er nicht gemerkt.«
»Aber der Herr Stiftsprediger! – Welch ein Glück, Rosmarie, daß nun jemand noch klüger ist als dein langer Freund: ich hatte gedacht, gegen ihn komme niemand auf.« Vater und Tochter sind in dem Fürstenzimmer, der Sommerstube, die so heißt, weil sie eine sehr schöne Stuckdecke besitzt, auf der im Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts der Sommer als schöner Jüngling mit Ährengarbe und Sichel abgebildet ist. Die Sommerstube geht nach dem Tale zu, und man sieht so schön hinunter auf das Dorf, den Fluß im sanften Bogen und die Waldberge. Über des Fürsten Schreibtisch hängt nun das Bild des Seelchens, dem sie schon leise zu entwachsen anfängt und das ihrem Vater immer teurer geworden ist.
»Papa, von der himmlischen Melodie hat Harro nichts gewußt.«
»Also dein Lehrer ist eine Nummer über den unvergleichlichen Harro hinaufgekommen. – Nun, ich weiß jetzt, wie man bei dir daran ist ... dem Herrn Stiftsprediger ist es gelungen, dich so zu gewinnen, daß du an deinen alten Freunden Fehler findest.«
Rosmaries Augen stehen voll Tränen. »Hab ich das getan?«
»Ich bitte dich, Kleine, sei nicht so weichmütig. Harro ist sakrosankt, und es freut mich, daß dich der Unterricht nicht schreckt. Und laß mich auch dein blaues Heft sehen.«
»Ich habe auch ein rotes Heft, Papa, für mich ganz allein.«
»Das Harro nicht zu sehen bekommt?«
»Wenn er wollte, schon. Aber er will nicht. Er will nichts davon hören, und Frau von Hardenstein auch nicht.«
»Von dem roten Heft?«
»Nein, von dem, was darin steht.«
»Ja und ich? Will ich auch nichts davon hören?«
Seelchen sieht ihren Vater zweifelnd an. »Vielleicht wirst du auch böse sein!«
Der Fürst lacht: »Bring mir dein rotes Heft, das nicht einmal Harro kennt, wenn du glaubst, daß ich vertrauenswürdig bin. Dein allertiefstes Geheimnis!«
»Papa, aber lachen darfst du nicht. Es tut mir weh. und es ist auch den andern gegenüber nicht recht.« »Was werd ich. Nein, ich fühle mich sehr geehrt, wenn ich dein Geheimnis empfangen darf. Lege mir dein rotes Heft auf meinen Schreibtisch. Nun geh, da ist der Gong.« – – –
Zwölftes Kapitel.
Die Freunde
Die Fürstin gähnte heute besonders ausdrucksvoll und verzweifelt über ihrem Roman. Der Unterhaltungsstoff pflegte an den Abenden auf dem Lande überraschend schnell zu versiegen. In der Stadt, ja da wäre man heute in die Oper gefahren, oder noch lieber in den Zirkus, oder man hätte selbst Gäste. In Brauneck nahmen die Abende leicht etwas Bleiernes an.
Die Fürstin erhob sich plötzlich. Den Roman konnte sie eigentlich auch im Bett lesen, und schlief sie darüber ein, so war sein Zweck aufs beste erfüllt. Wenn nicht jedes Gastbett besetzt ist, so ist so ein altes Schloß ein unsagbar melancholischer Aufenthalt an einem trüben Herbsttage.
»Ich will morgen früh reiten.« Der Fürst öffnete ihr höflich bedauernd die Türe.
»Schon so früh?«
»Du weißt ja, wie es in Berlin wird. Man muß Vorrat schlafen.«
Der Fürst stand noch an der Tür, bis die glänzende Erscheinung verschwunden war. Dann knipste er sofort eigenhändig alles Licht aus und steuerte im Dunkeln nach der Tür und in sein eigenes Zimmer. Es sah wie eine Flucht aus.
»Das neue Zeug,« murmelte er, »man kommt sich ganz von Möbelhändlers Gnaden vor. Ein Glück wenigstens, daß man die Wände stehen lassen muß.«
Die Sommerstube leuchtet auf, er zündet sich eine Zigarette an. Da liegt auf seinem Schreibtisch ein rotes Heft, ein grünes Band ist darum gebunden, darin steckt ein blutroter Ahornzweig. Er lachte behaglich auf: Rosmaries Geheimnisse. – Es tat ihm wohl, daß er der einzige Empfänger war. Freilich, Harro hatte nur nicht gewollt. Aber an das dachte er nicht mehr. Ein goldenes Band unter dem grünen! Diese kleinen Damen! Etwas ganz Wertvolles muß für sie in dem Schulheft stecken! Und es ergreift ihn eine leichte Besorgnis, was er wohl alles findet. Diese Freundschaft mit dem langen Thorsteiner – dreizehn Jahre war sie jetzt alt ... Himmel, schon dreizehn. Man vergaß es immer wieder über dem Kindergesicht ... Manche jungen Damen fangen da schon mit Gefühlen an. Hatte er nicht als Fünfzehnjähriger der dreizehnjährigen Forstmeisterstochter über die Mauer hinüber die von der Tafel gesparten Bonbons in einer aus seinem schönsten Kronenbriefpapier