Ich gab ihr zu bedenken, dass alles auf den Winkel ankomme. Sie stand zu nahe an der Wand. Ein Zurückweichen war ihr nicht möglich, ein Ablassen von der wirklich grässlichen Tapete widerstrebte ihr. Ich wirkte auf Marie ein, allein es wirkte nicht. Sie verlegte sich auf das ihr probat scheinende Mittel des sirenenartigen Geschreis, welches prompt die Mutter ins Zimmer rief. Mich sprach aus dieser Szene unser gemeinsamer ästhetischer Nenner an, der eine Basis bildete, auf die ich bauen wollte. Ich spürte, sie vertraute meinem Geschmacksurteil, wenn auch bei holpriger, oft zögerlicher Übernahme.
Einige Wochen später saß Marie mitten im Kinderzimmer auf dem Töpfchen. Die Mutter stand am Resopaltisch, über den sie ein dickes Tuch gelegt und somit zum Bügeltisch umfunktioniert hatte. Sie führte das Bügeleisen den Ärmel eines Männerhemds entlang, machte dabei routinierte Bewegungen, um letzte Fältchen zu glätten. Jedes Mal, wenn sie das Eisen beiseitestellte, zischte Dampf aus an der Unterseite befindlichen Löchern, wie aus den Nüstern eines erbosten Drachens. Marie hielt vom Töpfchen aus die Vorgänge am Bügeltisch unter Observation. Wärme und Feuchtigkeit hingen wie eine Glocke im Zimmer. Die Abendnachrichten dudelten aus dem Radio. Der Mutter sonst so geordnetes Haar war durch den Dampf aufgelöst, ihr Gesicht von Hitze und Anstrengung gerötet. Ich spürte, wie die drückende Wärmeglocke Marie angenehm war, wie sie es genoss, aus den Bewegungen ihrer Mutter mit dampfendem Bügeleisen einen Rhythmus auszumachen. Die wiederkehrenden Zischlaute, das Glucksen der im Wasserbehälter umherschwappenden Flüssigkeit, das Hintergrundrauschen des Radios, das alles lullte Marie ein, dass ich fürchtete, sie fiele in Schlummer und von ihrem Topf.
Ich muss dabei erneut auf das unerfreuliche Gebiet der Hygiene eingehen, denn obwohl ich bereits weit über ein halbes Jahr in Maries Körper lebte, hatte ich mich noch nicht an dessen Unzulänglichkeiten gewöhnt. Es störte mich frappant, dass sie nach wie vor auf Windeln angewiesen war, ja mehr noch, kreidete ich mir Maries Unvermögen höchstpersönlich an. Schon längst hätte sie mit mir als intimstem Mitbewohner vollständige Kontrolle über ihre Körperfunktionen erlangen müssen. Mich beschämte, dass Marie noch nicht stubenrein war. Während der Prozedur des Töpfchensitzens haderte ich mit meinen bisherigen Erfolgen. Wäre Marie ein normales Kind gewesen, gehörten ihre Entwicklungsstufen und der Umgang mit ihren Exkrementen ebenfalls zur Sphäre der Normalität. Aber mit mir als ständigem Begleiter hätte sie erheblich reifer sein, die Phase der Selbstbesudelung längst hinter sich lassen und sich der Sehnsucht nach dem Geruch des Lavendelwassers zuneigen müssen. Stattdessen saß sie sehr entspannt in dampfender Atmosphäre, die Latzhose mit Apfel-Aufnäher schoppte sich um ihre Beine, ihr nackter Po hatte sich im Töpfchen festgesaugt. Den Daumen im Mund befingerte sie jüngst dort eingezogene Milchzähne. Die Mutter richtete das Wort an sie, ich hörte nicht hin, war auch ich vom Dampfe leicht benebelt. Ich merkte, wie Marie etwas zurückbrabbelte und sich anschickte, sich zu erheben. Dabei stützte sie sich mit beiden Händen auf dem Boden ab, reckte ihr nacktes Hinterteil in die Höhe, was einen lauten Plopp erzeugte und ein Odeur freisetzte, das einer noch nicht einmal Einjährigen nicht zuzutrauen war. Sie richtete sich auf und wollte nichts eiliger tun, als ihr Erzeugnis einer eingehenden Prüfung samt Tiefenbohrung zu unterziehen.
Ich wurde inwendig laut, was Marie ein wenig stocken ließ. Das Ploppen musste die Mutter alarmiert haben, jedenfalls hatte sie sich von ihrem Bügeltisch gelöst und war auf Marie losgestürzt. Sie hielt Marie erfolgreich von obangezeigtem Plan ab, lobte sie über vollbrachtes Produkt und ging mit ihr ins Badezimmer. Nach Abschluss der Reinigung lachte Marie, da sie ganz so wie ich zur Sauberkeit neigte und froh war, wenn ihre Malheurs beseitigt wurden. Sie setzte sich auf den Fliesenboden des Badezimmers, schlüpfte in ihre Unterhose, fand sogar in die Latzhosenbeine. Ja, ich konnte stolz sein, die Fortschritte der letzten Monate waren gewaltig. Meine Unzufriedenheit und latente Ungeduld mussten sich aus anderer Quelle speisen.
Marie wackelte an der Hand ihrer Mutter vom Bad durchs Vorzimmer dem Kinderzimmer entgegen. Da traf mich die Erkenntnis wie jene Faust, die sprichwörtlich ums Auge kreist, um dann und wann zuzuschlagen. Ich war in den vergangenen Monaten nach anfänglicher Orientierungslosigkeit und Akklimatisierung derart intensiv mit Marie beschäftigt gewesen, dass ich mich und mein Ziel aus dem Visier verloren hatte. Dennoch fühlte ich unentwegt dessen Existenz, wenn auch unter schwerem, schwarzem Samt verborgen.
Kaum im Zimmer, eilte Marie ihrem Töpfchen zu, eine Berührung mit diesem wusste die Mutter zu verhindern. Und da geschah eine innere Verschiebung in mir. Die einzelnen Teile, deren ich bisher ansichtig geworden war, ergaben plötzlich Sinn.
Meine Wiedergeburt, das wurde mir in diesem unscheinbaren Moment bewusst, konnte nur einen Zweck haben. Am Ende meines ersten Lebens hatte ich meinen Roman No. 7/III unfertig zurücklassen müssen. Das Fragment, so erkannte ich nun, sollte in meinem neuen Leben wieder aufgenommen werden. Ja, allein aus diesem zweiten Leben würde R7/III möglich. Ich musste zum Unvollendeten zurückkehren und meine Arbeit fortsetzen, zum Abschluss bringen.
Wie ein Gestirn, ein neu eingefangener Mond ging dieses Leben jetzt auf. Meine Neugeburt in Marie war dazu bestimmt, mein Opus magnum zu vollenden. Und hierfür würde ich ihr meinen Willen aufoktroyieren.
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