Marie, ich befehle Ihnen, sich umzudrehen, sofort, in einem Schwunge, beherzt und auf der Stelle!
Hätte ich sie erst in die Bauchlage manövriert, so mein Plan, erhöhte sich die Wendigkeit ihres Kopfes, brächte ich sie anschließend zum Krabbeln, könnte ich die Ausweitung meines Aktionsradius angehen.
Marie!, schrie ich, Marie, hören Sie mir zu! Sie müssen meine Befehle aufs Genaueste befolgen. Nehmen Sie Schwung und rollen Sie seitlich auf Ihren Bauch. Das schafft jedes Kind, so auch Sie!
Mein herrisches Gebieten war nur der naheliegendste Einstieg für mein Vorhaben. Gleich einem plumpen Anfänger vor hochpoliertem Konzertflügel, schlug ich beidhändig auf die Tastatur, egal ob Schwarz oder Weiß treffend, mich keiner Zwischentöne bedienend. Ich wollte sie aufrütteln. Die Zeit des zarten Sonatenspiels könnte beginnen, nachdem ich mich ihrer Mitwirkung vergewissert hätte.
Doch Marie hatte schon wieder beide Füße in ihrem Mund und elaborierte daran, sie möglichst tief in den Rachen zu treiben, gleichsam einen menschlichen Kringel bildend. Sie verzichtete dabei nicht auf ihre Freudenquietscher, was einem beängstigenden Röcheln nahe kam. Freilich fand jedwede Befürchtung nur meinerseits statt, denn Marie befand sich dank ihres geringen Alters noch in elysisch angstfreier Teilwahrnehmung. Sie nuckelte an ihren Zehen, während ich begann, die Klaviatur des Flügels subtiler zu bearbeiten. Bei leisem, sonorem Bass setzte ich an, verstieg mich zu verträumten Trillern, schlug grimmige Moll-Akkorde an, die in ihr Unterbewusstsein einsickern sollten, um als waches Aufhorchen zur Immanenz hochzusteigen.
Marie gluckste, ließ ihre angefeuchteten Zehen absinken, gönnte ihrer Wirbelsäule eine ausgleichende Streckung, entsann sich kurz darauf wieder ihrer Beine, hob sie an, um sie hocherfreut einer weiteren Mundhöhlenerprobung zuzuführen. Ich klimperte bereits auf Saiten, die ob ihrer Kürze kaum größere Schwingungen als Metallplättchen in Spieluhren hervorbrachten. Nichts erzeugte Resonanz in Marie. Ich fühlte meine Abgeschiedenheit, wie einst Jonas im Walfischbauch, doch ich weigerte mich, sie hinzunehmen. Die Beweislast war erdrückend, aber noch hatte ich nicht alle Register gezogen.
Jeder Mensch ist ja ein hochsensibles Messgerät seiner Umwelt, obzwar bei einigen die Eichung im Unklaren liegt. Doch die diffizile menschliche Wahrnehmung, gerade bei solch unfertigen Wesen wie Marie eines darstellte, verläuft zum weitaus größten Teil über feinere Fühler als die Akustik. Sagte man nicht auch Hunden nach, sie wären in der Lage, die Autorität des Gegenübers oder das Fehlen einer solchen, durch Witterung festzustellen? Die Angst des Postboten, der am Gartentor läutet, röchen sie schon hinter verschlossener Haustüre. Dabei lag es, wie mir Hundebesitzer einst versicherten, nicht primär am Geruchsinn des Tieres, sondern an untrüglichem Instinkt. Und war Marie mit ihren wenigen Monaten nicht einem Welpen näher, und somit im Instinkte beheimatet, als dem Reich ausdifferenzierter Kognition? Ich musste daher zu präverbaler Kommunikationsform finden.
Ich tobte wie blöde im Walfischbauch. Meine von jeher stattlich zu nennende Wut über die Tücken des Objekts brach ungezähmt aus mir heraus. Ich schrie und strampfte, doch mein Wüten war ergebnislose Gebärde, die zu nichts als totaler Erschöpfung führte. Denn wo mir zu Lebzeiten Widerstand entgegentrat, klaffte nun eine unbeeindruckte Leerstelle. Schon nach Kurzem war ich entkräftet, nicht mehr fähig, Maries Namen zu hauchen, war nur noch Gedanke und Vorstellung. In dieser packte Marie mit beiden Händen ihre Zehen, steckte sie in ihren Mund, sonderte ein tiefes Gurgeln ab und rollte seitlich auf die Matratze ab, kam in stabiler Lage zur Ruhe und hielt, überrascht von ihrer Mobilität, den Atem an.
So auch ich, als ich erkannte, dass sie aus meiner Vorstellung heraus diese realisiert hatte, gleichsam in indirekter Verschiebung meinen Wunsch in die Tat übersetzt hatte. Als entfigurierter Spielteilnehmer konnte ich mich an keiner körpereigenen Reaktion delektieren, aber mit einem Schlage war die Zeit meiner Passivität vorüber und der Beginn einer neuen Grundbefindlichkeit brach an. Allerlei Pläne drängten sich sogleich an mich heran. Denn, wie ich einst so trefflich formulierte: Wer weiß, was er soll, ist glücklich. Er stürzt davon, beflügelt vom unausrottbaren Glauben ans Gelingen. Und so erwuchs aus meinem neuen Leben das Bewusstsein, dass mein Streben kein geradliniges sein würde, da mein Ziel noch in vollkommener Dunkelheit verborgen lag, aber dennoch fühlte ich, dass ein solches existierte, wenn auch noch tief unten, von schwarzem, schwerem Samt verhüllt.
Marie lag seitlich eingerollt auf der Matratze. Über die neue Situation nicht unfroh, wusste sie trotzdem nicht, wie ihr zu entkommen war. Wieder stellte ich mir vor, gleichsam suggestiv, wie sie ihre Füße losließ und sich zurückrollte, es sogar auf die andere Seite schaffte. Marie nahm tatsächlich ihre Zehen aus dem Mund, ein feuchter Speichelfaden spannte sich zwischen jenen und den Lippen, was ihr nicht weiter auffiel. Sie blieb in stabiler Seitenlage, ihren Lauten nach zu urteilen in zu stabiler Lage. Jedoch widersetzte sie sich meinem Vorschlag und verlegte sich stattdessen auf lautes Wehklagen. Darauf kam die Mutter ins Zimmer, wie immer freudestrahlend, sobald sie ihrer Tochter ansichtig wurde, diesmal gespickt mit einer Prise Besorgnis im Ausdruck. Die junge Frau trug ihr blondes Harr kunstvoll hochgesteckt, der sonst offene Pferdeschwanz war in einzelnen Locken am Hinterkopf drapiert. Sie bot einen appetitlichen Anblick. Kaum hatte ich diese Beurteilung gefällt, fuhr mir Bestürzung ein. Sollte die Assoziation von »junger Frau« und »Appetit« nicht mir, sondern Marie entsprungen sein, in Analogie von »Mutter« und »Futter«? – Man verzeihe mir hier den plumpen Endreim. Was für Marie naheliegend gewesen wäre, bedeutete für mich eine erschütternde Wechselwirkung in ungewünschter Richtung, weshalb der Gedanke von mir augenblicklich verworfen wurde. Die Emanation von Appetit in Anschauung von Maries Mutter konnte nirgendwo anders als aus meiner erotischen Prägung entsprungen sein.
Die Mutter ahnte glücklicherweise nichts von meinen Begehrlichkeiten. Sie nahm Marie hoch, drückte sie an sich, nicht ohne ihren Kopf mit Küssen zu überziehen. Während eines Singsangs an Komplimenten und Liebkosungen prüfte sie diskret Maries Windel. Da das Kind scheinbar dichtgehalten hatte, konnte eine neuerliche Reinigung entfallen, wurde es umgehend in selbst gestrickte Wollware verpackt. Solcherart angetan stellte sich die Mutter mit Marie im Arm vor den Spiegel. Ich schaute mir als Baby im Strickkostüm entgegen. Wie sich denken lässt, erschrak ich über mein Spiegelbild, das nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte. Nichts, rein gar nichts, erinnerte an mich. Ich betrachtete mich eingehend, aber sah nur Marie. Sie hatte dicke Backen, runde Knopfaugen, einen Mund, der zahnlos lachte, den Kopf voller dunkler Locken und einen wohlgenährten Körper, der sich ständig in Bewegung hielt. Obendrein steckte sie in lila-weiß gestrickten Wollhosen, Wolljäckchen und dazu passender Haube. Sie sah herzallerliebst aus und war von einem solch hohen Grade von Süßigkeit, dass ich mich nicht hätte enthalten können, sie ein wenig zu zwicken, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Wobei mein Urteil weder durch die herkömmlichen Bestandteile des Kindchenschemas, noch durch mein unbestreitbares Naheverhältnis beeinflusst wurde, sondern auf rein objektiven Kriterien basierte, was von einem Geistesmenschen wie mir nicht anders zu erwarten war.
Im Spiegel sah ich, wie die Mutter Marie auf die Wange küsste, so fest, dass sich Maries Mund öffnete und ein Speichelfaden heraustropfte. Ich war noch immer fassungslos über meine derzeitige Erscheinung, die in nicht der geringsten Kleinigkeit meiner früheren entsprach. Ich war in Maries Gesicht unauffindbar. Wie ein gespitzter Stamm den Leib des Gepfählten, durchfuhr mich, dass niemand von meiner Existenz erfahren würde. Mein neues Leben verliefe eingeschlossen in Marie, schlimmer noch als Jonas in seinem Walfisch, der doch an rechter Zeit und Stelle unbeschadet ausgespuckt worden war. Aber ich bliebe für immer unsichtbar.
Trotz geistiger Lähmung ob dieser Erkenntnis merkte ich das Gesicht der Mutter vor mir. Sie musste Marie folglich zu sich gedreht haben. Mein Ausblick auf die Frau trübte sich, da Marie erneut zu weinen begann. Die Mutter trug Marie durchs Vorzimmer, wippte auf und ab, schritt zur Wohnungstür, wo ein Kinderwagen stand. Marie wurde bäuchlings in den Wagen gelegt, wodurch sie genötigt war, ihren Kopf hochzuhalten. Dies ermöglichte mir, durch ein kleines Fenster im Kopfteil des Wagens zu schauen. Noch war der Blick tränenbedingt verhangen, aber schon ahnte ich die Possibilitäten, die mir diese Luke eröffnete.
Die Mutter