»Bitte, kommen Sie herein, Miss Fansler. Vielleicht sollte ich Frau Doktor sagen oder Professor; ich bin Captain Stern von der Kriminalpolizei. Ich habe der Sekretärin draußen im Vorzimmer meinen Ausweis gezeigt, und sie hat mir vorgeschlagen, ich sollte vielleicht besser hier drinnen warten. Sie war so freundlich, mich hereinzulassen. Ich habe nichts durcheinandergebracht. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Ich versichere Ihnen, Captain«, sagte Kate und setzte sich an ihren Schreibtisch, »ich weiß nur sehr wenig über das Privatleben meiner Studenten. Ist einer von ihnen in Schwierigkeiten?« Sie sah den Kriminalbeamten mit Interesse an. Als leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen wurde sie nie den Verdacht los, dass Detektive im wirklichen Leben ganz schrecklich normale Menschen waren, von der Sorte, die zwar mit den kurzen Antworten bei ihren Verhören gut zurechtkamen (zumal sich bei den Niederschriften dann noch einiges korrigieren ließ), komplexe Gedanken, ob literarische oder andere, aber als Belästigung empfanden; von der Sorte, die harte Fakten liebten und auf das Bedürfnis nach Differenzierungen mit Abscheu reagierten.
»Wären Sie wohl so freundlich, Miss Fansler, mir zu sagen, was Sie gestern bis zwölf Uhr mittags getan haben?«
»Was ich getan habe? Also wirklich, Captain Stern, ich versichere Ihnen nachdrücklich, dass …«
»Bitte, seien Sie so freundlich und beantworten Sie nur meine Frage, Miss Fansler. Meine Gründe werde ich Ihnen sofort erklären. Also, gestern Morgen.«
Kate starrte ihn an und zuckte dann mit den Schultern. Wie es die unglückliche Angewohnheit von Leuten ist, die mit Literatur zu tun haben, stellte sie sich schon vor, wie sie dieses außergewöhnliche Ereignis weitererzählen würde. Sie fing den Blick des Kriminalbeamten auf und griff nach einer Zigarette. Er gab ihr Feuer und wartete geduldig. »Donnerstags halte ich keine Vorlesungen«, sagte sie. »Ich schreibe an einem Buch, und ich habe gestern den ganzen Vormittag im Magazin der Bibliothek verbracht und Artikel aus Zeitungen des neunzehnten Jahrhunderts zusammengesucht. Ich war dort bis kurz vor eins, habe mich dann frisch gemacht und mit Professor Popper zum Lunch getroffen. Wir haben im Club der Fakultät gegessen.«
»Leben Sie allein, Miss Fansler?«
»Ja.«
»Wann kamen Sie in Ihrem ›Magazin‹ an?«
»Dieses Magazin, Captain Stern, bezeichnet den inneren Bereich der Bibliothek, in dem die Bücher aufbewahrt werden.« Wieso, fragte sie sich, fühlen sich Frauen eigentlich immer unangenehm berührt, wenn man sie fragt, ob sie allein leben? »Ich habe die Bibliothek gegen neun Uhr dreißig betreten.«
»Hat Sie irgendjemand im Magazin gesehen?«
»Jemand, der mir ein ›Alibi‹ geben könnte? Nein. Ich habe mir die Bände herausgesucht, die ich brauchte, und an den kleinen Tischen gearbeitet, die für den Zweck an der Wand aufgestellt sind. Verschiedene Leute müssen mich dort gesehen haben, aber ob sie mich erkannt haben oder sich an mich erinnern, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Haben Sie eine Studentin namens Janet Harrison?«
In Büchern, dachte Kate, gingen Kriminalisten immer voller Enthusiasmus an ihre Arbeit, fast wie Ritter bei ihren Kreuzzügen. Aber wirklich klargemacht hatte sie sich bisher nicht, mit welchem Eifer sie tatsächlich an ihre Arbeit gingen. Gelegentlich waren sie natürlich verwandt mit den Angeklagten oder den Ermordeten oder in sie verliebt, doch ob sie nun ihre Ermittlungen beruflich führten oder als Amateurdetektive, sie waren mit großer Leidenschaft bei der Sache. Kate fragte sich, an welchen Dingen Captain Stern wohl sonst Interesse hatte, wenn überhaupt. Könnte sie ihn fragen, ob er allein lebe? Sicher nicht. »Janet Harrison? Sie gehörte zu meinen Studentinnen. Ich meine, sie hatte eine meiner Vorlesungen belegt, über den Roman im neunzehnten Jahrhundert. Das war im letzten Semester. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Kate dachte sehnsüchtig an Lord Peter Wimsey; der hätte an dieser Stelle jetzt sicherlich innegehalten und mit ihr ein Gespräch über den Roman im neunzehnten Jahrhundert angefangen. Captain Stern schien davon noch nie gehört zu haben.
»Haben Sie ihr empfohlen, sich an einen Psychoanalytiker zu wenden?«
»Großer Gott«, sagte Kate, »ist es das, worum es hier geht? Bestimmt überprüft die Polizei nicht alle Leute, die eine Analyse machen. Ich habe ihr nicht ›empfohlen‹, einen Psychoanalytiker aufzusuchen; ich fände es unpassend, so etwas zu tun. Als sie zu mir kam, hatte sie den Entschluss bereits gefasst oder zumindest den Rat bekommen, zu einem zu gehen. Sie fragte mich, ob ich ihr jemanden empfehlen könne, denn sie hatte gehört, wie wichtig es sei, einen wirklich kompetenten Menschen zu finden. Jetzt, wo Sie das erwähnen, weiß ich nicht einmal genau, warum sie damit zu mir kam. Ich vermute, wir nehmen nur allzu gern an, dass man uns als Monumente von Klugheit und natürliche Autoritäten auf den meisten Gebieten des Lebens betrachtet.«
Captain Sterns Miene zeigte kein bestätigendes Lächeln. »Haben Sie ihr also einen Psychoanalytiker empfohlen?«
»Ja, das habe ich tatsächlich.«
»Wie heißt der Analytiker, den Sie empfohlen haben?«
Kate wurde plötzlich ärgerlich. Ein Blick aus dem Fenster, wo der April überall Begehren in den Menschen weckte, trug auch nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Sie wandte sich vom Campus ab und richtete den Blick auf den Kriminalbeamten, den der April nicht anzurühren schien. Zweifellos waren für ihn alle Monate von gleicher Grausamkeit. Worum auch immer es sich hier handeln mochte – und ihre Neugier war einem ziemlichen Ärger gewichen –, hatte es irgendeinen Sinn, Emanuel da hineinzuziehen?
»Captain Stern«, fragte sie, »bin ich verpflichtet, diese Frage zu beantworten? Ich bin mir gar nicht sicher, was meine Rechte angeht, aber müsste man mich nicht darauf hinweisen oder mir sagen, worum es überhaupt geht, wenn ich schon verpflichtet wäre, auf Ihre Fragen zu antworten? Würde es vorerst genügen, wenn ich Ihnen versichere (obwohl ich es nicht beweisen kann), dass ich gestern Vormittag bis ein Uhr mit keinem einzigen menschlichen Wesen außer Thomas Carlyle zu tun hatte, dessen Tod vor mehr als einem halben Jahrhundert allerdings ausschließt, dass ich damit etwas zu tun haben könnte?«
Captain Stern nahm das nicht zur Kenntnis. »Sie sagen, Sie hätten Janet Harrison einen Psychoanalytiker empfohlen. War sie mit ihm zufrieden? Hatte sie vor, die Behandlung bei ihm länger fortzusetzen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Kate und spürte so etwas wie Scham über ihren sarkastischen Ausbruch, »ich weiß nicht einmal, ob sie zu ihm gegangen ist. Ich habe ihr Namen, Adresse und Telefonnummer gegeben. Ihm gegenüber habe ich die Sache erwähnt. Von dem Augenblick an habe ich das Mädchen nicht mehr gesehen und auch keine Sekunde mehr an sie gedacht.«
»Gewiss hätte der Analytiker es Ihnen gegenüber erwähnt, wenn er sie als Patientin angenommen hätte. Vor allem«, fügte Captain Stern hinzu und zeigte damit zum ersten Mal, dass er schon einiges wusste, »wenn er ein guter Freund von Ihnen war.«
Kate starrte ihn an. Zumindest, dachte sie, spielen wir hier kein sinnloses Fragespiel. »Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, das zu glauben, aber er hat es tatsächlich nicht erwähnt, und ein erstklassiger Analytiker täte das auch nicht, besonders dann nicht, wenn ich ihn gar nicht gefragt habe. Der Mann, von dem wir reden, ist Mitglied des New Yorker Instituts für Psychoanalyse, und es verstößt gegen deren Grundsätze, über einen Patienten zu sprechen. Das mag Ihnen befremdlich vorkommen, ist aber doch die schlichte Wahrheit.«
»Was für eine Art Mädchen war Janet Harrison?«
Kate lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte, die Intelligenz des Mannes einzuschätzen. Als Lehrerin am College hatte sie gelernt, dass man verfälscht, wenn man allzu sehr vereinfacht. Es gab nur eine Möglichkeit: das, was man meinte, auch möglichst klar zu sagen. Was mochte diese Janet Harrison wohl angestellt haben? Hatten die vor, ihre Labilität unter Beweis zu stellen? Wirklich, dieser lakonische Polizist war höchst anstrengend.
»Captain Stern, während die Studenten hier ihre Vorlesungen besuchen, geht ihr Leben weiter. Die meisten von ihnen leben nicht