Jiftach und seine Tochter. Rüdiger Lux. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rüdiger Lux
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374067572
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1. Innerbiblische Stimmen

       2. Jüdische Stimmen

       2.1. Josephus: Vom Unglück im Glück

       2.2. Pseudo-Philo: Vom rechten Beten

       2.3. Rabbinica: Toratreue oder Toravergessenheit?

       3. Christliche Stimmen

       3.1. Origenes: Ein stellvertretendes Opfer

       3.2. Ambrosius: Eine Kollision der Pflichten

       3.3. Johannes Chrysostomos: Des Teufels List und Gottes Pädagogik

       3.4. Aurelius Augustinus: Vom gerechten und vom ungerechten Töten

       3.5. Martin Luther: Die Entzauberung der Helden

       D VERZEICHNISSE

       Literaturverzeichnis

       Abbildungsverzeichnis

      VORWORT

      Manchmal bedarf es nur eines einzigen Augenblicks, der ein ganzes Leben von Grund auf verändert. In der Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von Kontingenzerfahrungen. Solche Erfahrungen beziehen sich immer auf Gegebenes, das sich einstellt, aber nicht notwendig so sein muss wie es ist. Nicht alles, was der Mensch erwartet, trifft ein. Nicht alles Gegebene ist auch das Erhoffte und Erwünschte. Es kann mitunter ganz anders kommen. Jede Erwartung birgt eine Enttäuschungsgefahr in sich. Denn die Zukunft ist eine offene Tür, von der man nicht weiß, wer und was uns aus ihr entgegenkommt. Da kann sehr schnell aus der freudigen Erwartung eine tiefe Bestürzung werden.

      Wenn es eine biblische Erzählung gibt, die sich solch einer Kontingenzerfahrung stellt, dann ist es die von Jiftach und seiner Tochter, in der die offene Tür zum Symbol einer bösen Überraschung wurde. So wie Jiftach nicht erwartete, dass ihm bei seiner siegreichen Rückkehr aus der Schlacht seine Tochter entgegenkäme, so erwartete die jubelnde Tochter nicht, dass sie damit zum Opfer ihres Vaters würde. Beiden wurden ihre Erwartungen zum tragischen Verhängnis. Wer aber hat das tragische Verhängnis über Jiftach und seine Tochter verhängt? Wer hat das im Moment der Begegnung Gegebene gegeben? Wer ist dafür verantwortlich zu machen, Gott, Dämonen, der Mensch, das Schicksal? Der biblische Erzähler der Jiftacherzählungen verweigert seinen Lesern jede eindeutige Antwort auf diese Fragen. Und gerade durch diese Verweigerung zwingt er sie dazu, sich selbst den durch die Erzählung aufgeworfenen Kontingenzerfahrungen zu stellen. Was er zu erzählen wusste, ist nicht abgeschlossen. Erfahrungen des Tragischen bleiben eine Gegebenheit menschlicher Existenz. Man kann an ihnen scheitern, aber auch wachsen. In jedem Fall müssen sie auf die eine oder andere Art bestanden und bewältigt werden.

      Die Religion wurde in diesem Zusammenhang als eine Form der »Kontingenzbewältigungspraxis« beschrieben (Hermann Lübbe). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass sie auf die aufgeworfenen Fragen nach der Verantwortlichkeit oder dem Sinn der scheinbar sinnlos-tragischen Gegebenheiten zwar auch nicht in jedem Falle und jedermann überzeugende Antworten zu geben weiß. Aber sie hält seit alter Zeit erprobte und bewährte Handlungsmuster bereit, die im Umgang mit und im Bestehen von tragischen Kontingenzerfahrungen hilfreich sein können: Klagen, Gebete, Erinnerungsriten, die Gestaltung einer Memorialkultur, die den menschlichen Schmerz und die Trauer nicht beim Einzelnen belassen, sondern helfen, ihn gemeinschaftlich zu tragen. Alles das tritt selbst in einer nichtreligiösen Gesellschaft plötzlich wieder in Erscheinung, wenn diese durch eine unvorhersehbare Katastrophe in ihren täglichen Gegebenheiten erschüttert wird. Zu diesen Handlungsformen gehören auch biblische Texte, die dem Sprache verleihen, was uns sprachlos macht. Als solch einen Text lese und befrage ich auch die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter. Eine Erzählung, die uns an die Grenzen des Menschlichen wie auch die Grenzen unserer Rede von Gott führt.

      Griechische und hebräische Worte sind durchweg kursiv gesetzt und werden in einer vereinfachten Umschrift wiedergegeben. Der Gottesname, das Tetragramm JHWH, bleibt ohne Vokale. Man kann ihn der jüdischen Tradition folgend als Adonaj aussprechen und wie in deutschen Bibeln üblich mit »Herr« übertragen.

      Mein Dank gilt allen, die zur Entstehung und zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben, Dr. Michael W. Lippold für die sorgfältige Lektorierung, Stefan Selbmann für die gewissenhafte Betreuung der Drucklegung, Frau Dr. Annette Weidhas für gelegentliche Erinnerungen und bleibendes Interesse, meinem Sohn Friedrich Lux für die bewährte Zusammenarbeit bei der Gestaltung des Covers auch dieses Bandes und meiner Frau für hilfreiche Gespräche und kritische Rückfragen. Die Verantwortung für Fehler und alles, was nicht gelungen ist, liegt selbstverständlich allein beim Autor.

      Leipzig im August 2020

      Rüdiger Lux

       Jeder Glaube muss paradox sein; für das Klare und selbst für das Wahrscheinliche braucht man kein Glauben.

       Kein Sterblicher lebt, dem bis ans Ziel hold lächelt das Glück; schmerzfrei ward keiner geboren.

      A EINFÜHRUNG

      I. JIFTACHS TOCHTER –

      EINE HEBRÄISCHE IPHIGENIE?

      Iphigenie war die Tochter Agamemnons, des Königs von Mykene, und der Klytaimestra. Als seine Schwägerin Helena nach Troja entführt worden war, wurde Agamemnon zum Oberbefehlshaber der vereinigten griechischen Seeflotte ernannt, die sich in Aulis sammelte und vor Anker lag. Es galt, gegen Troja einen Rachefeldzug zu führen. Allerdings hatte Agamemnon zuvor in Aulis auf der Jagd eine heilige Hirschkuh der Artemis erlegt, woraufhin der Zorn der Göttin entbrannte. Sie verfügte eine Windstille und hinderte auf diese Weise die Kriegsflotte am Auslaufen. In dieser prekären Situation, so wird es in der »Iphigenie bei den Taurern« erzählt, habe Agamemnon der Artemis – nichts Böses ahnend – gelobt, ihr »die schönste Frucht des Jahres« als Opfer darzubringen, um sie wieder freundlich zu stimmen. Da öffnete ihm der Seher Kalchas die Augen für das Opfer, das die Göttin von ihm fordere:

      »Gebieter des Hellenenheeres, Agamemnon,

      kein Schiff legt ab vom Strand, bevor nicht Artemis

      zum Opfer deine Tochter