„Speedboat fahren mit Delfinen?“, überlegte ihr Vater stirnrunzelnd. „Können die das überhaupt?“
„Mann, Papa!“, beschwerte sich Greta, als ihr Vater und Hannes in schallendes Gelächter ausbrachen.
Ihre Mutter strich ihr beruhigend über das Haar. „Die machen nur Spaß, Spatz. Komm mit, wir holen Gläser. Aber zuerst reserviere ich noch schnell für heute Abend einen Tisch beim Italiener. Bring mir mal bitte das Telefon in die Küche.“
„Spaghetti!“, riefen Hannes und Greta wie aus einem Mund. Greta lief zum Festnetztelefon im Flur. Die Taste mit dem Briefumschlag blinkte unablässig. „Eine Nachricht ist auf dem AB“, verkündete Greta daher in der Küche, als sie ihrer Mutter das Telefon reichte.
„Da hat wohl jemand angerufen, während wir gespielt haben.“ Ihre Mutter drückte Greta ein Tablett mit vier Sektgläsern in die Hand, zwei davon waren bereits mit Orangensaft gefüllt. Dann drückte sie ein paar Tasten auf dem Telefon. „Oh. Doktor Schultz.“ Als sie einen weiteren Knopf drückte, sprang der Anrufbeantworter an. Die Stimme ihres Hausarztes erklang, gemessen, ernst. „Frau Holtzknecht, hier ist Doktor Schultz. Die Ergebnisse sind da. Bitte vereinbaren Sie einen Termin. Wir müssen sprechen.“
Greta konzentrierte sich voll darauf, die Gläser heil an den Esstisch zu bringen. So sah sie nicht, wie ihre Mutter das Telefon langsam sinken ließ, während das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und Angst und Sorge seinen Platz einnahmen.
Gretas Wecker, den sie sich auf die verabredete Zeit gestellt hatte, begann, leise zu piepen und holte sie zurück ins Jetzt. Sie erhob sich, packte ihre Tasche und ging durch das Zimmer. Behutsam drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür auf. Sie lauschte. Es war nichts zu hören. Im Flur war es dunkel, vom Wohnbereich strahlte kein Licht die Treppe herauf. Das Fenster am Ende des Flurs ließ das Mondlicht ein. Nachdem sie eine ganze Zeit lang im Dunkeln gesessen hatte, hatten sich ihre Augen gut an das Dämmerlicht gewöhnt.
Hannes’ Tür öffnete sich und sein blasses Gesicht erschien im Spalt zwischen Türblatt und Rahmen. Er verharrte kurz, um zu horchen, dann winkte er ihr. Sie schlich über den Flur, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihren Ohren dröhnte ein Rauschen. Erleichterung durchströmte sie, als Hannes die Tür hinter ihr zuschob.
Hannes schloss die Tür so leise wie möglich und lehnte sich dann dagegen. Um seinen Hals hing ein Brustbeutel. Greta dachte kurz daran, wie sehr er es verabscheut hatte, wenn ihre Mutter sie gezwungen hatte, so einen auf Klassenfahrten zu tragen.
„Dein Geld. Gib es mir“, flüsterte er.
Gretas Hände zitterten, als sie in ihrer Hosentasche nach den Scheinen wühlte. Sie reichte ihm das zerknüllte Bündel. Er glättete die Scheine notdürftig und steckte sie in seinen Brustbeutel, den er dann unter seinem T-Shirt verschwinden ließ.
„Gut. Ich war vorhin kurz im Büro oben. Hab unsere Ausweise gefunden. Und die Versichertenkarten. Hab auch die Schülerausweise. Vielleicht wollen wir ja mal günstiger ins Kino.“ Er lachte, aber es klang künstlich. „Alles hier drin.“ Er klopfte sich auf die Brust.
„Ok. Ich mein, gut. Gut gedacht.“ Greta hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst zuzusehen. War sie wirklich gerade dabei, wegzulaufen? Von zuhause?
Hannes schien sich über das Kompliment zu freuen. „Und ich hab unsere Jacken geholt. Die dicken. Wird ja jetzt Herbst. Vermutlich wird es nachts bald kälter.“
„Mhm-mhm.“ Mehr brachte Greta nicht zustande. „Nachts“, hatte er gerade gesagt. Einfach so, als wäre nichts dabei. Greta jedoch wurde schlagartig klar, dass sie in der nächsten Nacht nicht unter ihre Bettdecke mit den aufgedruckten Minions schlüpfen würde. Ihr wurde übel.
„Er“, begann Hannes, „ist irgendwo unten. Ich weiß nicht, wo. Er ist jedenfalls nicht oben.“ Damit meinte Hannes das Stockwerk der Kinder und die Räume unter dem Dach, wo das Arbeitszimmer ihres Vaters und das Elternschlafzimmer lagen. Das Elternschlafzimmer hatte ihr Vater seit Monaten nicht mehr betreten. Die Geschwister auch nicht.
Greta jedoch war vorhin dort gewesen, hatte sich wie ein Dieb mit einer Taschenlampe in den kalten Fingern hinaufgeschlichen. Die Staubschicht auf den Möbeln und die abgestandene Luft hatten ihr Tränen in die Augen getrieben. Sie hatte das gerahmte Bild vom Nachttisch ihrer Mutter genommen, das im letzten gemeinsamen Urlaub entstanden war. Sie hatten sich für die Aufnahme auf eine Mauer am äußersten Rand einer Steilklippe gesetzt, und hinter ihnen war nichts zu sehen als das dunkle Blau des Meeres und das helle Blau des Himmels. Nur Weite, und ihre vier strahlenden Gesichter.
Jetzt lag der silberne Bilderrahmen leer und vorwurfsvoll auf ihrem Bett. Sie hatte das Bild herausgenommen, gefaltet und in die Gesäßtasche ihrer Jeans gesteckt.
„Hier, anziehen“, sagte Hannes und drückte ihr ihre Sneakers in die Hand. Seine eigenen trug er schon. Während sie in die Schuhe schlüpfte, rollte er ihre beiden Jacken zusammen und befestigte sie mit Paketschnur an seinem riesigen, prall gefüllten Wanderrucksack. Dann hievte er den Rucksack auf seinen Rücken. Er sah damit aus wie ein Teilnehmer der Dschungelexpedition in diesem Dokumentarfilm, den sie vor kurzem gesehen hatten.
„Los geht’s. Weil wir nicht wissen, wo genau er ist, können wir die Haustür nicht riskieren. Über das Flurfenster kommen wir aber aufs Dach der Garage. Und von da über die Mülltonnen nach unten auf die Straße. Ganz einfach.“
Er öffnete die Tür seines Zimmers, lauschte wieder, aber im Haus regte sich nichts. Ohne sich nach ihr umzusehen, bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und huschte in den Flur hinaus. Sie lief ihm nach, bemühte sich, leise zu sein und mit ihrer Tasche weder an der Tür noch an der Kommode im Flur anzustoßen. Als sie am Ende des Flurs ankam, hatte er bereits das Fenster geöffnet und war auf die Fensterbank geklettert.
„Ich geh raus und du gibst mir dann deine Tasche“, flüsterte er und schwang die Beine aus dem Fenster.
Greta kam das Fenster riesig hoch vor. Beinahe hätte sie aufgegeben. Aber dann wuchtete sie die Tasche hoch und schob sie hinaus. Aufgrund der Tasche konnte sie Hannes draußen nicht sehen. „Hast du sie?“, wisperte sie, dann spürte sie, dass Hannes die Tasche packte und zog.
„Ja“, bestätigte er, und die Tasche verschwand ins Freie. Sie holte tief Luft, dann stemmte sie sich hoch und kletterte auf die Fensterbank. Sie beugte sich hinaus. Das Dach der Garage war überhaupt nicht weit unter ihr. Auch nicht weiter als hinter ihr der Boden des Flurs.
„Komm, ist ganz einfach“, versprach Hannes und streckte ihr die Hand entgegen.
Ohne genau zu wissen, wieso, ignorierte Greta seine Hand. Sie stieß sich ab und ließ sich fallen. Die Kiesel auf dem Garagendach knirschten unter ihren Schuhsohlen, als sie landete.
„Sehr gut“, lobte Hannes leise und strahlte sie an. „Mir nach.“
Sie eilten über das Dach direkt dorthin, wo sich unten der kleine Verschlag für die Mülltonnen an die Garage anschloss. Es ließ sich nicht vermeiden, dass die Kiesel unter ihren Schritten mahlten, und Greta sah zwei Mal zurück zum Fenster, in der Erwartung, ihren Vater dort zu sehen, wütend, fassungslos, enttäuscht. Aber er tauchte nicht auf.
Wieder kletterte Hannes als erster nach unten auf den metallenen Verschlag, der die Mülltonnen verbarg. Beim Aufsetzen verursachten seine Füße ein Geräusch wie von einem dumpfen Gong und er verharrte. Dann schüttelte er sich und hob die Arme. „Die Tasche!“, rief er leise.
Greta ließ die Tasche zu ihm herab, dann ging sie auf die Knie und ließ die Füße hinunter. Immer weiter rutschte sie auf dem Bauch über die Kante, klammerte sich an der Dachkante fest und fühlte zunehmende Angst. Wie weit noch? Sie würde fallen …
Dann spürte sie Hannes’ Hände, die sie an der Hüfte packten. „Noch ein Stück. Du bist gleich unten. Jetzt lass einfach los.“
Sie schloss die Augen und ließ sich fallen. Fast sofort spürte sie festen