Sie runzelte die Stirn. Vor ein paar Tagen waren noch fast fünfzig Euro in der Dose gewesen. Sie selbst hatte Wechselgeld hinein getan, als sie vom Bäcker zurückgekehrt war, und dabei die Summe grob überschlagen. Langsam setzte sie den Deckel wieder auf die Dose und stellte sie zurück ins Regal. Bestimmt würde ihr Vater die Dose bald wieder auffüllen.
Am Montag war ihre Einkaufsliste um ein paar Zeilen länger, aber die Keksdose enthielt weiterhin nur Centstücke. Am Mittwoch waren sogar die Centmünzen verschwunden.
Zur Abendessenszeit am Freitag stellte sie eine Schüssel Reis auf den Tisch. Ihr eigener Herzschlag dröhnte laut in ihren Ohren, als sie sich auf ihren Platz setzte.
„Was gibt’s dazu?“, fragte Hannes prompt, nachdem er sich lässig auf seinen Stuhl hatte fallen lassen.
„Nichts“, sagte Greta leise.
„Wie, nichts?“, wiederholte Hannes verständnislos.
„Es ist nichts mehr da“, sagte sie tapfer. „Und ich hatte kein Geld zum Einkaufen.“
„Er tut doch immer was in die Keksdose“, meinte Hannes und zeigte mit einer Daumenbewegung auf ihren Vater.
„Die ist leer.“ Und dann, bevor sie sich aufhalten konnte: „Schon seit Tagen.“
„Wie kann die leer sein? Als ich letzte Woche Sprudel kaufen war, waren da noch mindestens zwei Zwanziger drin.“
„Fünfzig Euro“, bestätigte Greta leise. Sie wagte es nicht, ihren Vater anzusehen. Sie spürte ihn dennoch da sitzen, am Kopfende des Tisches, die Hände gefaltet, das Kinn darauf gestützt. Und sie spürte die Spannung, die sich aufbaute, wie eine schwarze Gewitterwolke, lautlos und unheilschwanger.
„Okay, das ist doch ganz einfach“, sagte Hannes und wandte sich seinem Vater zu. „Du gibst uns was. Dann können Greta und ich morgen einkaufen gehen.“
Einige Sekunden verstrichen in totaler Stille. Dann sagte ihr Vater: „Das wird warten müssen bis zum Dreißigsten.“
Greta begriff nicht, aber Hannes schaltete erstaunlich schnell. „Da kommt das Geld vom Amt.“ Er machte eine Pause und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Soll das heißen, dass wir bis dahin kein Geld mehr haben? Nichts mehr?“
Statt einer Antwort presste ihr Vater nur die Lippen zusammen.
Hannes’ Hand, die neben seiner Reisschüssel auf dem Tisch lag, krampfte sich zusammen. „Dir ist bewusst, dass wir Mitte des Monats haben, oder?“
„Heute ist der Siebzehnte.“
„Oh ja, na dann, dann ist das ja gar nicht die Mitte.“ Hannes’ Ton war schneidend. „Verzeih meine Übertreibung.“
„Ist gut jetzt, Hannes“, sagte ihr Vater, sehr leise. Greta konnte den Ton seiner Stimme nicht deuten.
Hannes rührte mit dem Löffel in seinem Reis herum, Metall schlug gegen Porzellan. Schließlich fragte er, wobei Greta ihm deutlich anmerkte, dass er seine Stimme zwang, ruhig zu klingen: „Wo sind die fünfzig Euro hin, die da drin waren?“
Ihr Vater legte die Handflächen auf den Tisch. „Das geht dich überhaupt nichts an.“
Hannes’ sprang auf und stieß seinen Stuhl um, dessen metallener Rahmen mit lautem Scheppern auf den Fliesen aufschlug. Greta zuckte so heftig zusammen, dass Reis in hohem Bogen von ihrem Löffel flog.
„Es geht mich nichts an?!“, Hannes brüllte vor Zorn. „Es geht mich nichts an?! Und was sollen wir bis zum Monatsende fressen?!“
Auch ihr Vater sprang auf. „So nicht!“, schrie er.
„Du kannst mich mal!“ Hannes war außer sich, er zitterte am ganzen Körper, als wäre er voller Energie, die nicht wusste, wohin sie sich entladen sollte. „Wie tief sollen wir noch sinken? Hm? Sag schon! Kein Geld, um essen zu kaufen?! Was kriegst du eigentlich auf die Reihe?“
„Du hast keine Ahnung!“ Das Gesicht ihres Vaters war verzerrt vor Wut. „Du hast keine Ahnung, wie es ist!“
„Was denn? Was? Sich zuhause den Arsch plattsitzen? Uns die Hausarbeit machen zu lassen? Stütze kassieren fürs Nichtstun?“
„Ich tu, was ich kann“, knirschte ihr Vater. „Alleinerziehende Väter stehen nicht unbedingt ganz oben auf der Kandidatenliste.“
„Ach so, wir sind schuld?!“, Hannes’ Stimme überschlug sich. „Du kriegst keinen Job wegen Greta und mir? Ich hab da einen Rat für dich: Geh mal einen Abend weniger in die Kneipe und lauf nicht rum wie ein Obdachloser! Krieg endlich deinen Scheiß gebacken!“
Es fühlte sich an, als stünde sie neben sich, als ihr Vater die Hand in die Luft riss. Vor Entsetzen schrie Greta auf.
Alle drei verharrten wie eingefroren. Sekundenlang bewegte sich niemand. Hannes starrte ihrem Vater in die Augen, ohne zu blinzeln. Ihr Vater wendete den Blick nicht ab, aber nach einigen Augenblicken nahm er die Hand herunter, langsam, so als kostete es ihn Mühe.
„Es wäre schon leichter ohne uns, nicht wahr?“, fragte Hannes, Blick und Stimme kalt wie Eis.
„Ganz genau“, antwortete ihr Vater.
Hannes Gesicht nahm einen triumphierenden Ausdruck an.
Greta verstand nicht, wieso. Sie fühlte sich wie unter Schock. Wie gelähmt. Sie fror.
„Komm“, sagte Hannes und hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie automatisch und er zog sie zur Treppe. Sie folgte ihm, ohne den Blick von ihrem Vater zu nehmen, doch er sah stur in den Garten hinaus, in den das Abendlicht lange Schatten malte, und schließlich wandte sie ihm den Rücken zu.
Sie folgte Hannes oder ließ sich von ihm ziehen, in ihr Zimmer. Er ließ ihre Hand los, öffnete ihren Schrank und zog ihre Sporttasche aus dem untersten Fach. „Da, packen“, stieß er hervor.
Sie fühlte sich immer noch wie betäubt. „Was?“
„Pack. Deine. Sachen“, wiederholte Hannes. „Kleidung. Zeug fürs Bad. Aber vor allem deinen Ausweis und Geld.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, die Geste wirkte wild und fahrig. „Ich hab was gespart. Damit kommen wir eine Weile klar.“
„Hannes. Hannes, wovon redest du?“, fragte Greta, obwohl sie ihn bereits verstanden hatte. Aber was er vorhatte, war ungeheuerlich und unfassbar. Es fühlte sich zu groß an für ihren Kopf.
„Na, du hast ihn doch gehört“, sagte Hannes. „Er hätte es ohne uns leichter. Stimmt vermutlich sogar. Dann kann er jeden Job annehmen, egal wie die Arbeitszeiten sind oder wo der ist. Dann sind weniger Esser im Haus. Keine Schule, keine Vereine. Niemand, für den er irgendetwas tun muss.“
„Hannes, wir können nicht weglaufen. Wo sollen wir denn hin?“
„Wir finden schon was. Ich kann arbeiten. Es gibt Unterkünfte.“
„Das ist verrückt.“
„Greta, ich halte es hier nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr. Wie lang geht das noch gut? Kein Geld für Essen. Und … und er hätte mich beinahe geschlagen.“
„Das hätte er nicht“, widersprach Greta, obwohl sie sich nicht sicher war.
„Natürlich nicht“, schnaubte Hannes.
„Er hat es schwer. Er braucht nur noch etwas Zeit. Wir waren auch traurig …“
„Waren? Echt jetzt?“, Hannes funkelte sie wütend an. „Ich bin es jedenfalls noch. Mama ist fort, für immer. Und den da“, er wies mit dem Kinn in Richtung ihrer Zimmertür, „hätte sie gleich mitnehmen können, denn … denn das ist nicht Papa.