»Vielleicht fliegen dein Sohn und mein Sohn irgendwann mit Raumschiffen zum Mars«, sagte Ennid in Caldoen zu Reg. »Oder sie erforschen unter Glaskuppeln den Meeresgrund. Egal, welche Musik sie hören und wie sie tanzen werden, auch 2021, in 100 Jahren, werden Leute glücklich sein, wenn sie ihrem Komplementärmenschen in die Augen blicken.«
In dem dunklen Zimmer in der Skinner Street trieb ihm das die Tränen in die Augen. Aller Gedanken müde lag er reglos im Bett. Er horchte auf Mrs. Splaines durch die Wand dringendes Schnarchen, wartete, dass der Ansturm aus Bildern und Wortfetzen weiterging, und er war schon fast eingeschlafen, als ihm etwas einfiel.
Sogar woran Ennid dachte, wenn sie selbst im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ihm Regyn erzählt – und ihn seiner betrübten Miene wegen ausgelacht: »An dich leider nicht!«
Ennid versuche vielmehr sich zu erinnern, was sie von ihrem Vater gelernt hatte.
Dass Regen nie schlecht war.
Dass zwischen zu faltenden Segeln und zu faltenden Hemden bloß ein Größenunterschied bestand.
Dass ein namenloses Schiff kein Schiff und ein betrunkener Kapitän kein Kapitän war.
Ebenso wenig war ein Streit ein Gewitter – nichts entlud sich dadurch, denn wozu führten denn schwarze Gedanken? Einzig zu noch schwärzeren.
Als ihr Komplementärmensch verstand er das sofort. Streitigkeiten glichen Bränden in Kohleflözen: Das Feuer schwelte im Verborgenen, oft jahrzehntelang (so war es in einem ihrer Bücher angestrichen gewesen). Daher musste man sich von Menschen abwenden, in denen so ein Schwelbrand wütete – sie verzehrten sich selbst. Ennid, sagte Regyn, glaube oft, ein solcher Mensch, der sich verzehrte und in nicht enden wollendem Streit mit sich und dem Leben lag, so einer sei sie selbst.
Manchmal liege sie wach und versuche sich zu vergegenwärtigen, was sie so lange schon quälte. Hätte sie drei Wünsche frei, sagte sie zu Reg, keiner davon wäre, dass der Schmerz aus ihrem Bein verschwand. Er war ja ein Teil von ihr. Nur dass sie selber bestimmen könnte, wann er kam und ging, würde sie sich wünschen.
Regyn hatte sie gefragt, was sie sich außerdem wünschen würde, und Ennid antwortete, zuerst würde sie ihre Eltern und Mickie auferstehen lassen. Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken (Reg hasste es) und sagte, als drittes würde sie sich neun weitere Wünsche wünschen.
War sie wirklich, wie ihre Mutter behauptet hatte, eine »Pragmatikerin vor dem Herrn«? Ennid war überzeugt, dass man den wahren Zustand eines Schiffs weder an Deck noch im Maschinenraum oder in den Laderäumen feststellte – nur die Einstellung der Mannschaft verriet, wie es um das Schiff bestellt war.
Sie war überzeugt, dass man Geld machte, indem man kaufte, und nicht, indem man verkaufte. Und sie war sich sicher, dass immerzu gegen den Strom zu schwimmen zu nichts führte. Man musste den Rand des Stromes suchen, von dort aus die Strömung einschätzen lernen. Liebe und Vernunft, in ihren Augen waren sie ein und dasselbe.
Sie erzählte Regyn, was sie liebte: Möwen, je größer, desto besser. Ihr Geschrei klang wie das Quietschen von Türen, mit denen sich die Ferne auftat. Sie liebte das Jaulen der Pontons, das von den Werften herüberdrang. Und Bücher, besonders Gedichte und Romane über den Wind und die See, Shelleys »Ode an den Westwind«, Conrads Lord Jim, am meisten aber Moby-Dick (zwei Monate lang rührte Reg das Buch nicht an), auch deshalb, weil das einzige weibliche Geschöpf darin Ahabs Schiff war, die Pequod, die alle über das Meer trug und zu allerletzt besiegt wurde von dem von Herman Melville erfundenen weißen Wal.
»Für sie lebt alles, was sie da liest«, sagte Regyn halb spöttisch, halb bewundernd und zuckte mit den Achseln.
Doch ebenso sehr mochte sie es, wenn es still war im Hafen, wenn die Stahlpontons nicht sangen und keine Möwengeschwader auf Beutezug über den Usk und den Severn zogen. Bücher, die ihr nicht gefielen, legte sie weg und rührte sie nicht wieder an. Auch von Büchern sollte man sich keine Unverschämtheit gefallen lassen! Und Dummheit war unverschämt, wenn man nichts dagegen unternahm.
Wann immer möglich, laufe sie barfuß, sagte sie zu Reg eines Sonntags am Ebbw, umgeben von Spaziergängern (von denen sie viele Leute kannten, seit sie auf der Welt waren), und zog Stiefel und Strümpfe aus, obwohl schon fast November war und jeder ihre Beinschiene sehen konnte.
Und einmal sagte sie, dass sie manchmal wegrennen wolle vor lauter Zorn und Kummer, vor dieser Angst, die keinen Namen hatte. Weg, einfach nur weg wolle sie dann, und nie mehr wiederkommen.
4
MÖWEN ÜBER DEM EBBW
Unter dem Regenschirm eilte sie übers Kopfsteinpflaster die Skinner Street hinunter und zog dabei ihr Bein nach wie einen Hund, der sich an ihr festklammerte. Oder sie fuhr an der Seite eines jungen Kerls, den er nicht kannte, in einem Speedster an ihm vorbei. Ihr Sommerhut, den sie ab und zu noch immer aufhatte, sah wirklich wie eine Brombeere aus, wenn auch eine sehr große.
Ein Morgen, an dem er sie zufällig sah, war ein im Keim erstickter, im Voraus vergeudeter Tag. Wenn er an so einem verlorenen Morgen im Kontor saß und über Papiergebirge hinweg aus dem Fenster starrte, fiel sein Blick auf die Reihe halb fertiggestellter Bauten gegenüber. Junge Spekulanten in Knickerbockern und Gamaschen hatten seinem Vater und anderen Stadtvätern weisgemacht, für Newport sei es an der Zeit, Cardiff den Rang abzulaufen. Ihre Duesenbergs und Pierce-Arrows kurvten durch den Morast der abgetragenen Victoria-Docks. Meterhoch spritzte der nach Öl stinkende Schlick weg hinter den aufjaulenden Automobilen, denen eine sumpfungeheuerartige Meute Kinder nachjagte.
Seit Kriegsende war überall im Hafen gebaut worden. In den eisigen Regengüssen rotteten die Rohbauten vor sich hin. Zuletzt hatte er Anfang November ein paar Maurerlehrlinge auf den Gerüsten gesehen – Mörtel verstreichend in blinden Fenstern, noch scheibenlosen, Mäulern gleichenden Löchern. Geisterhaftes Dunkel lag dort, wo längst erhellte Zimmer hätten sein sollen, für Sekretärinnen hinter Schreibmaschinen, Schreiber und Prokuristen, wie er selber einer war, Menschen an polierten Tischen voller Rechnungen, Listen und stapelweise unbeantworteten Briefe neben unverständlichen Geräten.
Wenn er so in diese Tristesse blickte, hörte er sie zumeist – die Stimme. Unvermittelt hob das Mädchen zu sprechen an, womöglich um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Erfand er das Kind, um seine Niedergeschlagenheit ertragen zu können?
Da, wo wir hingehen, wollen wir ein besseres Leben haben. Wir wollen nicht mehr nur durch alles durchgucken, sondern wieder anfangen zu sehen. Und miteinander und mit allen Dingen irgendwie wieder reden!
»Und wie soll das gehen?«, fragte er, weniger aus wirklichem Interesse denn aus Neugier, ob das Mädchen etwas erwiderte.
Aber wie erwartet kam keine Antwort.
Wenn er am frühen Abend im Regen durch die Dunkelheit nach Hause ging, waren die Kaianlagen übersät mit Sacktüchern. Wie tote Ratten nach einer ausgestandenen Seuche lagen sie auf dem nassen Pflaster, das im Gaslaternenlicht glänzte. Und wenn er dann den Kopf hob und unter dem Schirm hervor ein letztes Mal hinauf zu den Gerüsten sah, schienen ihm die Neubauten bereits den Schatten ihrer Zerstörung vorauszuwerfen.
Kein Leben würde je in das Kontorhausviertel einkehren und daher auch nie eines in die Gebäude zurückkehren. Erinnerung bewahrte nichts Lebendiges, wie Ennid glaubte. Erinnerung nannte man die tröstliche Beschönigung der Vergänglichkeit. Die Häuser waren wie er, leer und verlassen, egal, wie lange schon oder wie lange noch. Für ihn waren sie ein steinernes Menetekel, und wohl deshalb hatte er irgendwann in diesem Winter eingesehen, dass sie nicht einfach hässlich waren, sondern gerade aufgrund ihrer abscheulichen Sinnlosigkeit irgendwie auch liebenswert.
Jeder musste etwas lieben, da bildete nicht mal er eine Ausnahme. Wer von keinem geliebt wurde, den liebten die Gegenstände. Auf ihre stumme, eigenbrötlerische Weise erwiderten sie die ihnen entgegengebrachte Zuneigung. So war der Blumen- und Kräutergarten in Pillgwenlly nicht nur deshalb eine Pracht, weil ihn seine Mutter neun Monate im Jahr hegte. Schönheit war eine Antwort. Die Endurance und das Packeis waren gütig zu ihm und den 27 anderen Antarktikern gewesen.