An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel? Nur Shackleton war der Lösung dieses Rätsels nahegekommen, und auch bloß einmal. Im vergangenen Jahr hatte Sir Ernest auf einer Vortragsreise Newport besucht und während eines Small Talks an seinem Wagen zu ihm gesagt, er solle nicht vergessen, wer ihn gerettet habe: Niemand habe Merce Blackboro gerettet außer Merce Blackboro selbst.
Selbst dem ruhmreichen Sir nahm er das nicht ab. Nur dass sie zusammenhielten und nicht aufgaben, hatte ihn und die anderen vor dem sicheren Erfrieren bewahrt – der Rest war eine aberwitzige Aneinanderreihung absurdester Zufälle.
Er hatte seine Schwester nie danach gefragt, irgendwann aber war er überzeugt gewesen, dass Reg mit ihrem »Was wohl?« in Trelech-a’r-Ryddws nur das Leben gemeint haben konnte.
Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens –, dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein. Der Labrador Checker, der durch den Ärmelkanal schwamm, dürfte, als man ihn an einem Strand bei Calais aus dem Wasser zog, nicht so müde gewesen sein. Merce war 24, ein blasser junger Mann ohne besondere Merkmale außer den Narben von Frostbeulen. Er blickte in den Regenhimmel. Er würde eine der ältesten Firmen in einer versinkenden Stadt erben. Er war der letzte Blackboro.
So wie die Fische in den Flüssen ziehen am Himmel die Wolken dahin, unendlich viele riesig große Wolken, lauter Schwärme aus Wolken, sagt Mommy. Hast du so was schon gesehen?
Ja, solche unerklärlich lebendig wirkenden Wolkenschwärme hatte er über dem Weddellmeer gesehen und nie mehr vergessen.
Zwischen den Wolken silbern glänzend tauchte eine Dreipropellermaschine auf und verschwand dann wieder, wie ein Fisch in der Strömung.
Er habe Liebeskummer, hieß es, und höchstwahrscheinlich stimmte, was seine Mutter und seine Schwester, die Erfahrung in Liebesdingen hatten, behaupteten. Ja, er gab es zu: Er hatte immer nur sie geliebt, das eine Mädchen, das jetzt eine Frau war und mindestens so unglücklich wie er. Kummer, das wusste er, konnte keine Grundlage für das sein, was zwei Menschen miteinander verband, zumal wenn es in Wahrheit eine Schwermut war, der nicht mal er selber über den Weg traute. Keiner in seiner Familie war schwermütig. Warum er? Wieso hörte er dieses Kind?
2
IM WOLKENMEER
Durch dichte graue Wolken stieg die Dreipropellermaschine höher und höher. Lautlos zogen die Wasserdampfschwaden an den Fenstern vorbei, hüllten das Flugzeug ein und staffelten sich unbegreiflich breit, tief und hoch übereinander. Jeden Moment würde das Gewölk auseinanderreißen, den Blick freigeben auf das Himmelsblau, das unverändert darüberliegen musste.
Doch nichts geschah. Auf Wolken folgten noch mehr Wolken, zwischen ihnen der Dunst verband sie mal lockerer, mal zäher, dann erneut Schwaden, wieder dichte, milchweiße Wolkenbänke, Wolkeninseln, eine Dünung aus langsam auf und nieder wogendem Nebel.
Sie waren zu dritt in der zwar niedrigen, doch hellen und nicht engen Kabine. Ein Pluspunkt. In den vier Doppelsitzreihen konnte jeder von ihnen an einem Fenster sitzen, und diese Gelegenheit hatte sich keiner entgehen lassen, weder Bryn noch er, und auch die junge Stewardess nicht, die eigens für solche Rundflugtermine mit amerikanischen Kaufinteressenten ausgebildet war, hieß es. Davon, dass das Mädchen ungewohnt nervös sei, hatte kurz vor dem Start der kaum ältere Pilot seine beiden Passagiere in Kenntnis gesetzt, wohl ein lokaler Scherz, denn die übers Flugfeld herbeieilende junge Frau unter dem Regenschirm war zwar etwas außer Atem, doch die Ruhe selbst. In ihrem rosafarbenen Wollmantel erinnerte sie an einen Flamingo, als sie die alberne kleine Gangway heraufhüpfte und Wangenküsse mit dem Piloten tauschte. Unter dem anbrausenden Geknatter der Motoren waren sie zu ihren Sitzen gegangen.
Sie saß hinter Bryn, und der hagere große Junge mit dem gewinnenden Lächeln hockte vorn in der Kanzel, wo er hingehörte. Robey sah von seiner Sitzreihe aus nur eine Schulter und den Hinterkopf mit der Lederkappe, während vor den Cockpitfenstern der Bugpropeller Wolken zerhäckselte.
»Irgendwer hier oben muss mächtig Hunger auf Milchsuppe haben«, sagte er hinüber zu Bryn, der mit seinem Bryn-Meeks-Nicken antwortete, devot und ironisch zugleich.
Er fragte sich, ob Bryn nervös war, ob er selbst es war, und warf einen Blick über die Schulter auf ihre junge Begleiterin. Hinter ihrem Landsmann Meeks zu sitzen schien ihr sympathischer zu sein, weniger riskant jedenfalls. Sie hatte dickes blondes, fast golden schimmerndes Haar, die Frisur einer Kartenabreißerin am Broadway.
Nein, nervös war sie nicht. Sie sah aus dem Fenster, auf die Wolken, wie Bryn und wie er selbst. Währenddessen achtete er mit allen Fasern seines Körpers auf jedes Klopfen, Surren, Brummen oder noch so leise Klirren, das das Flugzeug von sich gab.
Sie war stark geschminkt. An einer Wange auf Höhe der Nase glitzerte was. Wahrscheinlich war sie ohne dieses Hautfresko blass. Manchmal lächelte sie, er fragte sich, worüber, als sie sich plötzlich zu ihm wandte und ihn ansah, frontal, mit einem so offenen Blick, wie ihn in ganz Manhattan schon seit Jahren niemand mehr hatte.
»Alles in Ordnung bei Ihnen, Sir?«, fragte sie und lächelte.
Die langen Wimpern, die Propeller ihrer Augen.
Er hob eine Hand zum Dank und sah hinter dem Fenster das durch die Lüfte treibende Watteweiß der Wolke, die sie soeben durchflogen.
»Und bei Ihnen, Mr. Meeks«, hörte er, »alles in Ordnung?«
»Irgendwer da unten muss ziemlichen Hunger auf Milchsuppe haben, Miss«, antwortete Bryn mit dem unüberhörbar walisischen Akzent, den er sich seit der Ausschiffung in Cardiff wieder zugelegt hatte.
Diese Bemerkung war auf ihn gemünzt, er beschloss aber, nicht in der Stimmung zu sein, seinen Assistenten zur Schnecke zu machen. Nach ein paar weiteren Minuten Blindflug riss von einer zur anderen Sekunde der Himmel auf, und umgeben von strahlender Bläue ging die Harper Airrant mit den drei schweren Liberty-Motoren in den Horizontalflug über, legte sich auf die Luft und, so schien es, verschnaufte von den überstandenen Strapazen.
Eindeutiger Minuspunkt. Er schnallte sich ab. Auch die Gurte, die einem ins Fleisch schnitten und die Luft abdrückten – nicht zu gebrauchen. Aber das waren Kleinigkeiten. Er stand auf und gab acht, sich nicht den Kopf zu stoßen – er war zwar kein Lulatsch oder Hüne, jedoch zu groß für dieses fliegende Zigarettenetui.
Bryn sah wieder hinaus. Sein kleines Gespräch mit der jungen Miss hatte keine Fortsetzung gefunden, und nun blickte sie erneut ihn an, lächelte so mitleidsvoll zu ihm herauf, als flögen sie schon seit einem Tag und einer Nacht über eine Wüste oder ein Meer. Sie fragte, ob er ein Aspirin wünsche.
»Ich habe alles zur Hand, Mr. Robey.«
»Nein«, sagte er, das Danke verschluckend, »nicht nötig.«
»Oder ein halbes Nembutal, Sir, oder vielleicht ein Viertel?«
Er legte eine Hand auf die freie Lehne ihrer Sitzreihe, quasi die gepolsterte Verlängerung ihrer Schulter. »Hören Sie, junge Madam … Ich bin hier, um dieses Flugzeug entweder zu kaufen oder nicht zu kaufen. Ich habe nicht vor, mich zu betäuben, im Gegenteil. Dieser Flug über Ihr schönes Land dient …«
»… der Entscheidungsfindung, ich verstehe«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir leid, Sir.« Sie verschränkte die Hände auf ihrem Mantel, und er bemerkte ihre rot lackierten Fingernägel, die wohl mit ihrem Lippenstift und dem Mantel zu korrespondieren hatten, ob sie wollten oder nicht.
»Was verstehen Sie, Schätzchen? Erklären Sie’s mir.«
Sie lachte auf. Ihr Oberkörper bebte. Er konnte sich vorstellen, was ihn wo in solcher Form hielt, und das war gut. Ihre Augen, ihre Blicke, ihre Lippen und ihre Worte, alles bewahrte