Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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bis zum Dachboden, und alles kam unter den Hammer, alle Möbel und Teppiche und die Gemälde an den Wänden. Alles wurde fortgeführt; auch das Mahagonibett. Der Weinhändler und seine Frau starben jung; sie standen kaum im Sommer ihres Lebens. Nachträglich hiess es, ihr Leben sei der unverschämteste Schwindel gewesen. Die vielen Fässer, die man aus den weitläufigen Kellern heraufholte, waren teils völlig leer, teils mit blankem Wasser gefüllt.

      Auch das Haus und der grosse schöne Garten kamen unter den Hammer und wurden zu einem Spottpreis losgeschlagen; denn niemand wollte das Haus der Selbstmörder haben, obschon man einen prächtigeren Besitz in der Gegend kaum finden konnte. Seit alters her nannte man ihn Ritterhof. Es hiess, einmal habe hier ein gewaltiger Mann, ein Ritter, gelebt, der sei im Kampf mit den Bauern vor den Toren der Stadt erschlagen worden. Damals war der Ritterhof eine Burg mit Turm und starken Mauern. Später wurde daraus ein Dominikanerkloster.

      Alte Häuser haben ihre Geschichte. In der Klosterzeit entstanden unter dem Ritterhof die ungeheuren Keller. Die Leute behaupten, es führe ein Gang unter dem Rhein von einem Ufer zum anderen; aber er sei längst verschüttet; und es gebe im letzten Keller eine Treppe, auf der einst viele Menschen niederstiegen, aber keiner mehr heraufkam. Ausserdem gab es die Geschichte von einem Mönch. Möglicherweise war das eine neue Geschichte, von der Köchin Margarete erfunden und in Umlauf gesetzt.

      „Oh, oh — ein grauer Mönch in langer Kutte!“ sagte Margarete. „Er schritt über den Hof; er schritt am Haus vorüber und schaute von der Terrasse her ins Kontorfenster. Er lehnt am Fenster — und auf einmal ist er nicht mehr da. Aber von der Stelle aus rollt ein graues Garnknäuel, rollt über den Weg und verschwindet bei der Tujahecke ...“

      Drei Abende hintereinander sah die Köchin Margarete sowohl Mönch als Garnknäuel. Darauf starb die Herrschaft. Gewiss nur sinnloses Geschwätz einer alten, abergläubischen Person; doch es erfüllte einen geheimen Zweck. Es brachte den Ritterhof in der ganzen Stadt in Verruf.

      Das Töchterlein Alma zog zu ihrem Onkel, der ebenfalls ein Händler und grosser Herr war und in derselben Strasse wohnte. Alma zählte vierzehn Sommer, schmal und blond war sie und überaus fein, dabei schon etwas damenhaft. Man sah sie von dieser Zeit an nur noch in schwarzen Kleidern, als richtige Waise, blass, still und traurig. Man betrachtete sie scheu und hatte Mitleid mit ihr, weil ein hartes Schicksal sie so früh getroffen. Niemand trug dem Kind nach, was die Eltern gesündigt. Selbst die wilde Strassenjugend unterbrach ihre lärmenden Spiele, wenn Alma, wie ein Schatten der Nacht, an ihnen vorbeiglitt.

      Der Ritterhof versank in Schweigen; verlassen lag der schöne Garten. Doch der Frühling brauste durch die Welt und lockte bunte Wunder aus der geheimnisvollen Tiefe der Erde, auch wenn die Blumen niemand zur Freude blühten.

      Der neue Besitzer des Ritterhofs meinte, das sei ein sinnloser Zustand. Es gelang ihm, weder die Besitzung zu verkaufen noch zu vermieten. Kein einziger Liebhaber meldete sich für das Gespensterhaus.

      Woche um Woche ging. Dieselbe Totenstille im Haus. Im Garten verwelkten die Blumen; das Unkraut machte sich frech über alle Wege und Plätze her. Nur die Obstbäume trugen in stiller Güte ihre Früchte.

      Der Geheimnisvolle

      Verborgene Fäden knüpfen ferne Dinge zusammen. Alles hat seine Bedeutung. Die Bondorfs starben; sie machten im Ritterhof Platz für die Lohmanns. Ein ganz verwickelter Zug im grossen Spiel.

      In den Tagen, da im verlassenen Garten die Äpfel reiften, wurde die Familie Lohmann von einem hartherzigen Hausbesitzer auf die Strasse geworfen. Diese zahlreiche und sprachgewaltige Familie bezahlte ihre Miete höchst mangelhaft und wurde von den Hausbesitzern verachtet und von den Nachbarn gefürchtet.

      Klaus Lohmann, der Grossvater, ein buckliges, mageres Männchen, das stets mit dem Kopf wackelte, zog einst mit seiner Frau und fünf Töchtern vom Lande in die Stadt. Klaus selber führte ein Schattendasein, ging in der Stube aus und ein, setzte sich an den Tisch, beteiligte sich selten an der Unterhaltung. Sein Wort fand von niemand Beachtung. Sie nannten ihn den Ältesten; doch es lag keine Ehre in diesem Titel.

      Wovon die Lohmanns lebten, liess sich schwer ergründen. Zuweilen arbeiteten sie, zuweilen trieben sie einen kleinen Handel, meistens arbeiteten sie nicht. Sie lebten irgendwie und ernährten sich von einem Tag auf den anderen.

      Bald nach ihrer Ankunft in der Stadt fand die Tochter Barbara einen Bräutigam, der Lorentz hiess und sogleich starb. Nachdem er gestorben war, widmete sich die Tochter Barbara der Trauer um ihn, nannte ihn Lorentz selig und nähte nebenbei ein wenig.

      Die zweite Tochter heiratete einen Eisenbahner und bekam schnell nacheinander drei Buben — Werner, Emil und Arnold. Damit hörte die Fortpflanzung der Familie Lohmann auf. Sie vermehrte sich jedoch noch auf diese Weise, dass ein Mädchen, das vielleicht einen lockeren Lebenswandel führte, den Knaben Konrad ins Haus brachte und hernach wieder spurlos in der Ferne verschwand.

      Konrad zählte zwei Jahre mehr als Werner. Er war gewiss ein Kind der Sünde. Er hatte ein stilles, erschreckend blasses Gesicht und darin ein paar treue blaue Augen. Die drei Knaben umschlichen ihn, betrachteten ihn eingehend; darauf zogen sie sich in ihre Dachkammer zurück.

      Emil sagt: „Das ist der Sohn des Geheimnisvollen.“

      „Jetzt schwafelst du wieder“, erklärt Werner, indes er sich müht, das Werk einer alten Schwarzwälder Uhr in Gang zu bringen.

      „Zuweilen, in der Dämmerung, spricht er mit mir“, sagt Emil weiter.

      Die Schwarzwälder Uhr beginnt rasselnd zu schlagen, schneller oder langsamer, je nachdem Werner an der Kette zieht.

      Emil sagt: „Er heisst Konrad. Weisst du, warum?“

      Keine Antwort.

      „Weil er das uneheliche Kind einer Stallmagd und eines Grafen ist“, fährt Emil unbeirrt fort.

      „Woher weisst du das?“ fragt Werner.

      „Ich weiss es. Ein Fluch lastet auf ihm.“

      „Wer sollte ihn denn verflucht haben?“

      „Der Vater des Grafen. Niemand weiss das, nur ich allein. Darauf nahm Konrads Vater eine Pistole und schoss sich tot.“

      „Er schoss sich selber tot? Keine Spur.“

      „Doch. Auch ich werde mich einmal totschiessen. Ich weiss das alles In Konrad fliesst blaues Blut.“

      „Wo kann man das sehen?“

      „An den Schläfen. Vielleicht werde ich einmal eine Gräfin heiraten. Soviel ist mir schon verraten worden.“

      „Wer hat es dir verraten?“

      „Im Traum ...“

      Arnold, der jüngste, klettert auf eine grosse, leere Kiste; vorgebeugt, die Hände in den Hosentaschen, lauscht er gespannt und füllt mit der Zungenspitze die Backe aus, so dass eine Beule entsteht. Wenn ihm Emils Rede besonders gefällt, trommelt er mit den Fersen auf die Kiste.

      Emil war damals zehn Jahre alt. Sie gingen alle in die Stube hinunter und betrachteten den Knaben Konrad nochmals eingehend, die hohe Stirn und die Äderchen an den Schläfen. Es stimmte. Er hatte blaues Blut. Er war geheimnisvoll.

      „Was soll aus diesem Knaben werden?“ fragte Hannes Frank, der Eisenbahner, mit bösen Falten zwischen den Augenbrauen. „Sind nicht schon mehr als genug unnütze Mäuler vorhanden?“

      Aber die Lohmanntochter Elisa war ein mündiges Frauenzimmer; sie hatte ein kleines Gesicht, eine spitze Nase und einen schmalen, geraden Strich darunter; sie sagte zu Hannes Frank: „Du solltest dich vor dir selber schämen! Schweig und sieh seine Augen an!“

      „Darauf pfeif’ ich“, sagte Hannes. „Mit seinen Augen wird er sich den Bauch nicht füllen.“

      „Ob einer mehr oder weniger mit uns isst, hat nichts zu bedeuten.“

      Offenbar hatte das dennoch etwas zu bedeuten. Denn es entwickelte sich daraus einer der unzähligen Wortwechsel mit Tischklopfen, Fluchen und Türschmettern.