Nachdem er das zurückweist, findet er sich wieder auf der Straße. Er hat nichts, wohin er gehen könnte. Deshalb geht er immer weiter.
Er sieht in den Auslagen der Kaufhäuser Luxusartikel, die nicht für ihn ausgestellt wurden, und fühlt sich minderwertig, im Vergleich mit denen, welche die Produkte interessiert ansehen, und er tritt zur Seite. Er geht zum Bahnhof, damit er sich ausruhen und sich aufwärmen kann, aber das ist keine Suche nach Arbeit. Deshalb geht er wieder los. Vielleicht weiß er es nicht, aber diese Ziellosigkeit verrät ihn selbst dann, wenn seine Bewegung, sein Gang, sein Blick und sein unangenehmer Geruch ihn nicht verraten würden. Er könnte sich in Kleider hüllen, die er noch von den Zeiten besitzt, als er noch einen Job hatte, aber die Kleider verschleiern seinen Fall nicht.
Er sieht Tausende und Abertausende, Verkäufer, Apotheker oder Manager, die sehr beschäftigt sind und im Tiefsten seiner Seele ist er neidisch auf sie. Sie besitzen die Unabhängigkeit, das Selbstwertgefühl und er kann sich einfach nicht vorstellen, dass er auch gut ist, und wieso er nicht eines dieser Jobs machen kann, obgleich er eine Selbstanalyse durchführt und auf vorteilhafte Schlussfolgerungen kommt.
Das Geld bewirkt diesen Unterschied. Mit ein wenig Geld wäre er sein altes Ich. Wenn ich auf Kunden am Flughafen warte, sehe ich, dass mehrere Männer den Müll betrachten. Drei von ihnen habe ich befragt. Einer ist Italiener, ca. 40, ihn sehe ich nur von Frühling bis Herbst. Immer mit einer sauberen weißen Hose und schwarzem Hemd geht er die Kilometer zwischen den Mülltonnen auf und ab. LG: „Wieso suchst du dir nicht einen normalen Job?“ Italiener: Weil er viele Schulden hat und sie nicht zahlen könnte, und zum Essen würde es nicht reichen. Der andere ist 70 und kommt aus Kasachstan. Er bekommt zu wenig Rente, es reicht nicht zum Überleben. Der Dritte ist ein Deutscher, ca. 75, mit Krawatte – ich glaube, die Krawatte ist für das Raussuchen der Plastikflaschen aus dem Müll unbedingt notwendig – und sammelt in der Lodenjacke die Pfandflaschen. Ihn hat sein Kind ruiniert, weil er irgendeinen Kredit unterschrieben hat, das Kind hat Insolvenz angemeldet und er musste zahlen.
Angst vor Kritik
Wie der Mensch zum Gefangenen dieser Angst wurde, kann keiner genau sagen, aber eines ist sicher, sie ist in uns allen im beträchtlichen Maße vorhanden. Vielleicht kann die Angst vor Kritik der vererbten Neigung zugeschrieben werden, die einen nicht nur dazu anspornt, Güter von anderen Mitmenschen wegzunehmen, sondern seine Taten mit der Kritik am Charakter anderer zu erklären. Es ist bekannt, dass Politiker nicht mit dem Aufzählen der eigenen Tugenden, sondern mit dem Beschmutzen der Gegner in eine hohe politische Position gelangen wollen. Die clevere Bekleidungsindustrie, die Modediktatoren haben diese Angst vor Kritik, mit der die ganze Menschheit verflucht ist, schnell aufgegriffen. Jedes Jahr ändert sich die Mode. Wer stellt fest, was modisch ist? Natürlich nicht der Käufer, sondern der Hersteller. Wieso verändert er die Mode so häufig? Die Antwort ist ganz einfach, damit er mehr Kleider verkaufen kann. Damit er reicher wird. Wenn Sie dann nicht up to date, der aktuellen Mode entsprechend, gekleidet sind, werden Sie komisch angeschaut und sind Kritik ausgesetzt.
Autokonzerne wechseln auch ihre Modelle. Niemand möchte einen jungen Oldtimer fahren. Das neueste Modell muss her. Ich persönlich freue mich über den Wettbewerb der Autokonzerne. Man kann zwischen immer neueren Modellen und immer schöneren Farben wählen. Mein Tiguan kann heute neben den vielen Extras bereits selber parken. Sie haben richtig gelesen: Mit Hilfe einer eingebauten Kamera parkt das Auto selber.
Kritik beeinflusst das Verhalten der Menschen. Unsere Angst vor Kritik zeigt sich in den wichtigsten Bereichen der menschlichen Beziehungen.
Es ist beinahe bei jedem, der die seelische Reife erreicht hat – so ca. zwischen 35–40 Jahren –, dass man nicht mehr an Märchen glaubt, die ihnen vor einigen Jahrzehnten die Seelsorger lehrten. Wieso ist es dann aber noch immer so, dass der Durchschnittsmensch, in der bereits ziemlich aufgeklärten Denkweise, noch immer davor zurückschreckt, offen zu sagen, dass man an diese Märchen nicht mehr glaubt. Die Antwort: Weil er Angst vor Kritik hat. Es ist noch nicht lange her, dass man für Kritik harte Strafen bekommen hat, und in einigen Ländern ist es noch immer so. In Ungarn gab es eine ziemlich lange Zeit, in der man die Kommunisten nicht kritisieren durfte. Ein Bekannter hat mal einen Nachttopf auf den Kopf der Lenin-Statue gelegt und so seine Abneigung gegenüber den Kommunisten zum Ausdruck gebracht. Dafür musste er ein Jahr ins Gefängnis. Heute wurde sogar der Platz solcher Statuen beseitigt. Heutzutage kann man über Kommunisten schimpfen und über Fehler sprechen.
Die Angst vor Kritik hemmt die Menschen dabei Initiativen zu ergreifen, zerstört die Vorstellungskraft, schränkt die Persönlichkeit ein, nimmt die Selbstständigkeit und verursacht auf hunderte Arten weitere Schäden.
Es ist viel nützlicher zunächst uns selbst zu ändern, als danach zu streben andere perfekter zu machen. Menschen sind emotionale Wesen, in denen es nur so von Vorurteilen wimmelt, die von Stolz und Eitelkeit gelenkt werden. Kritik ist ein gefährlicher Funke: Sie kann leicht eine Explosion in der Pulverkammer der Eitelkeit auslösen. Jeder kann kritisieren oder sich beschweren. Aber man braucht Charakter und Selbstkontrolle, wenn man verständnisvoll und verzeihend sein will. Große Persönlichkeiten zeigen ihre Größe darin, wie sie mit kleineren Persönlichkeiten, Untergebenen und Angestellten umgehen.
Anstatt Menschen zu verurteilen, müssen wir versuchen sie zu verstehen. Versuchen wir herauszufinden, wieso sie machen, was sie machen. Das ist viel nützlicher und wertvoller als das reine Kritisieren. Nebenbei erzeugt es Sympathie, Geduld und Wohlwollen.
Kritisieren ist die Dienstleitung, von der wir alle viel zu viel bekommen. Jeder von uns hat davon beträchtliche Reserven und wir geben davon gerne gratis etwas ab, egal ob man danach verlangt oder nicht. Manchmal sind die engsten Verwandten oder Bekannte die eifrigsten Lieferanten von Kritik.
Man müsste es als Straftat ansehen – eigentlich ist es die schlimmste Form der Straftat –, wenn Eltern das Kind mit minderwertigen Aussagen und unnötiger Kritik erziehen.
Im bürgerlichen Leben sollte es ein Gesetz geben, das Leute, die kritisieren, Eltern, die sich über ihre Kinder beschweren, mürrische Ehefrauen, grobe Chefs und die Gesellschaft von Leuten, die überall nach Fehlern suchen, bestraft.
Arbeitgeber, die das menschliche Naturell kennen, erreichen Spitzenleistungen ihrer Angestellten nicht, indem sie kritisieren, sondern indem sie ihnen eine breite Palette an Vorschlägen unterbreiten.
Kritik sät Hass und nicht Liebe und Zärtlichkeit in die menschliche Seele.
Die Menschen geben sich nie selber die Schuld bei Fehlern und kümmern sich nicht darum, ob sie Recht haben oder sich irren.
Kritisieren ist nutzlos, weil es den anderen in eine Verteidigungsposition drängt und ihn zwingt sich zu erklären.
Kritisieren ist gefährlich, weil sie den Stolz und das Selbstwertgefühl des Anderen verwundet sowie Empörung weckt.
Das Kritisieren ist nur negativ, schlecht und verletzend, ansonsten ist es nur Kritik oder ein Kompliment.
Wenn der Kunde sagt, dass mein Taxi wunderschön glänzt, sauber ist und es gut riecht.
Oder ein Käufer sagt, dass Ihr Birnen- und Raupenkuchen spitze sind. Da kann ich nur danke sagen. Das ist ein Kompliment.
Aber wenn sie sagen würden, dass sie sich nicht mehr in mein Taxi setzen, weil es dreckig ist – was nicht wahr wäre – oder dass wir dieses scheußliche Zeug wem anders verkaufen sollen, aber nicht ihm – das wäre eine Kritik.
Das Wissen ist nicht angeboren, kann nur durch Erfahrung erlangt werden. Ich gebe zu, dass ich viele dumme Sachen in meinem bisherigen Leben gemacht habe. Habe ich das Recht, überhaupt jemanden zu kritisieren? Nein.
Symptome der Angst vor Kritik
Diese Angst ist mindestens genauso allgegenwärtig wie die