Nach wenigen Metern führte der Gang zu einer Tür im Erdgeschoss. Dort ging es zum alten Kontor, das sich im hinteren Haus in erstaunlichen Ausmaßen übers gesamte Erdgeschoss erstreckte. Jetzt stand es leer, nur ein paar alte Möbel und Ausschussware lagerten noch darin. Mandelbaum dachte an Ava und musste schmunzeln. Sie behauptete steif und fest, dass es seit dem Umzug dort spuke. Merkwürdige Geräusche würden am Abend und in der Nacht aus den Räumen hinter der Tür dringen. Ihr Bruder hatte ihr daraufhin geraten, in der Nacht zu schlafen und nicht allein durchs Haus zu wandern.
Neben der Tür führte eine dunkle, schmale Treppe hinauf zu den Wirtschafts- und Wohnräumen. Im ersten Stock wurde es unerwartet heller, denn die Rückseite des Hauses stand frei und durch die schmalen Fenster drang mehr Licht. Der alte Mandelbaum betrat das Wohnzimmer. Es war ein geräumiger, heller Raum, der sich von der Tür aus in einer Art auf dem Kopf stehender L-Form nach hinten erstreckte. Am Fenster beim Eingang stand ein Tisch, dekoriert mit einer Vase und den ersten Blumen des Frühlings. Daneben waren ein paar Stühle gruppiert, dahinter, wie eine Insel in der Mitte des Raums, eine Sitzgruppe, bestehend aus drei schweren Sesseln, einem großen Sofa und einem niedrigen Tischchen. Eine ähnliche Gruppe, nur leichter und eleganter, stand hinten im Raum, etwas im Eck versteckt. Insgesamt wirkte der Raum, so verlassen wie er jetzt schien, beinahe wie ein Ausstellungsraum für Möbel, der vielleicht zwei der Design-Linien der Möbelmanufaktur präsentierte. Auf jeden Fall waren sie etwas zu mondän und zu ausladend für das Zimmer. Dank seiner Schwester Jella standen die Sessel, Sofas und Chaiselongues der Marke MMM auch in vielen Salons großer Städte wie Hamburg, Frankfurt und Berlin. Ohne sie und ihre Beziehungen zu den Künstler- und Bürgerkreisen dieser Städte wäre die Manufaktur nie zu dem Ruf gelangt, der ihren jetzigen Erfolg ausmachte.
Als Mandelbaum die Sitzgruppen mit einem prüfenden Blick musterte, regte sich jemand in einem der hinteren Sessel. Der Raum war nicht verlassen, wie er anfangs angenommen hatte. Ava saß dort und stickte. Sie hatte die Tür gehört und beugte ihren Oberkörper vor, um zu sehen, wer das Zimmer betreten hatte.
„Du bist schon wieder zurück?“, rief sie überrascht, als sie ihren Vater entdeckte.
„Ja.“ Mandelbaum seufzte.
Ava legte ihr Stickzeug beiseite und trat zu ihrem Vater.
„Was wollte er denn?“, fragte sie neugierig.
Mandelbaum betrachtete sie ernst. Die dunklen Locken, den hellen Teint … Die lebhaften, beinahe schwarzen Augen hatten sie und ihr Bruder von ihrer Mutter geerbt, die schon vor vielen Jahren gestorben war. Ava trug ein einfaches, schlichtes Frühlingskleid, das den Raum heller machte. Sie selbst machte den Raum heller, fand Mandelbaum. Er schüttelte den Kopf und lächelte.
„Es war wohl doch nicht so wichtig, wie ich gedacht hatte“, sagte er. „„Außerdem ist das keine Frage, die eine Tochter ihrem Vater stellt. Du könntest zum Beispiel fragen, ob ich müde bin. Oder ob ich zu Mittag essen will. Oder …“
„Ja, ich weiß schon …“, unterbrach Ava ihn und nickte ungeduldig. „Fragen, die ein braves Mädchen seinem Vater eben stellt.“ Sie hakte sich bei Mandelbaum unter. „Aber da hast du mich wohl falsch erzogen.“ Sie lachte. „Nun sag schon, Papa. Was wollte Escher denn so dringend?“
Mandelbaum warf ihr einen bedenklichen Blick zu.
„Ich weiß auch nicht“, sagte er. „Die Frauen in dieser Familie …“
„Vater …“, beharrte Ava mit vorwurfsvollem Blick.
„Wir wollen hinübergehen. Sicher ist das Essen schon aufgetragen, und wie ich deinen Bruder kenne, sitzt er bereits am Tisch und wartet ungeduldig auf uns.“
„Soll er warten“, erwiderte Ava erbarmungslos.
„Na.“ Mandelbaum runzelte die Stirn. „Sicher will auch er wissen, wie die Besprechung mit Escher gelaufen ist.“
Tatsächlich saß Simon im Esszimmer am Tisch und blätterte in einer Zeitung, als Mandelbaum mit Ava den Raum betrat. Simon warf die Zeitung hin.
„Da seid ihr ja“, rief er lebhaft. „Ich habe schon auf euch gewartet.“
Mandelbaum lächelte.
„Du hattest recht“, flüsterte Ava, gab seinen Arm frei und setzte sich Simon gegenüber.
Von der Küche brachte das Mädchen eine Schale Knishes und einen Krug Wasser herein. Lina war eine kräftige, bleiche junge Frau, fast noch ein Kind, mit widerspenstigem, mausbraunem Haar, das sie schlampig nach hinten gebunden hatte. Sie war die jüngste Tochter einer verarmten Bauernfamilie. Ihre Eltern hatten sie zum Arbeiten in die Stadt geschickt.
Mandelbaum nahm am Kopf der Tafel Platz.
„Und?“, fragte Simon.
„Und?“, gab Mandelbaum zurück. „Sollte das eine Frage sein? Euer Benehmen lässt manchmal wirklich zu wünschen übrig.“ Er nahm ein Knish aus der Schale und goss sich Wasser ein. „Wie läuft es in der Manufaktur? Wird der Auftrag für Frankfurt diese Woche noch fertig?“
„Ich denke schon.“ Auch Simon griff zu. Er legte seiner Schwester ein Knish auf den Teller, dann sich selbst. „Wenn nicht, müssen wir am Samstag die Schicht verlängern. Aber ich glaube, wir schaffen es ohne Überstunden.“
„Mhm.“
Einen Augenblick herrschte Ruhe.
„Ich wollte eigentlich wissen, wie es bei Escher im Rathaus war“, sagte Simon dann.
„Ich auch“, rief Ava ungeduldig.
Mandelbaum verzog unwillig den Mund. Das Gespräch hatte bei ihm einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Es war ihm klar, dass Escher nicht wirklich über die Steuerreform mit ihm sprechen wollte. Es ging ihm um seine Aufträge. Aber die Art und Weise, wie er es anging, erregte Mandelbaums Besorgnis. Er wollte nicht in dieses System eingebunden werden, das Escher ihm indirekt angeboten hatte. Sein Vorschlag, die Steuern für die Manufaktur zu erleichtern, war wahrscheinlich noch im Rahmen der Legalität. Aber es war auch nicht ganz sauber, nicht fair anderen gegenüber, und er erhoffte sich dadurch Vorteile. Jedenfalls nahm Mandelbaum das an … Seine Sorge lief aber auf etwas anderes hinaus, das er sich nicht richtig erklären konnte. Es war mehr ein Gefühl, dass etwas nicht richtig lief und Escher sich möglicherweise auch anderer Mittel bedienen könnte.
„Es war nichts“, sagte er. „Ganz belanglos.“
In kurzen Worten schilderte er das Gespräch mit Escher.
„Und er hat nach euch beiden gefragt“, fügte er abschließend beiläufig hinzu.
„Hat er nicht versucht, einen neuen Vertrag auszuhandeln?“, fragte Simon erstaunt, ohne auf die letzte Bemerkung seines Vaters einzugehen.
„Nicht direkt“, erwiderte Mandelbaum. „Aber ich hatte schon das Gefühl, als sei er daran interessiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mit dem neuen Lieferanten bis jetzt sehr zufrieden. Es gibt keinen Grund, wieder mit Escher zusammenzuarbeiten …“
„… außer um des lieben Friedens willen“, ergänzte Simon.
„Es ist nur ein Geschäft.“ Mandelbaum zuckte mit den Schultern. „Escher hatte die Preise schon wieder erhöht. Und zwar deutlich. Es ist mein gutes Recht, mich nach einem besseren Angebot umzusehen.“
„Hast du ihm von der Hochzeit erzählt?“, fragte Ava dazwischen. Sie war ein bisschen rot geworden.
Mandelbaum warf ihr einen erstaunten Blick zu.
„Ja, habe ich“, sagte er. „Warum fragst du?“
„Nur so.“ Verlegen blickte sie vor sich auf den Teller.
„Er hat sich auch nach deiner Tante erkundigt.“
Das Mädchen kam aus der Küche und brachte Fisch und Gemüse herein.
„Es geht ihr schlechter“, sagte Ava traurig. „Heute Nachmittag kommt der