Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Stichler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948346225
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beim Versuch, den Burschen Beine zu machen.“

      „Hm“, machte Eduard leicht ernüchtert. „Aber diese Expedition zu fremden Stämmen, die Kämpfe mit Wilden … Übernachten im Zelt oder unter freiem Himmel am Fuß des Kilimandscharo. Und ist es nicht unsere Aufgabe, diese Wilden zu zivilisieren? Ihnen Kultur beizubringen?“

      Dr. Köhning lachte.

      „Ja, Sie sind jung, Escher. Gehen Sie in die Kolonien und suchen Sie Ihr Glück. Ich sitze lieber mit einem Cocktail in der Hand auf der Veranda.“

      Es folgten noch ein paar Fragen, die sich mehr auf die wirtschaftlichen Aspekte bezogen, auf die Art von Gütern und Waren aus den Kolonien und die Transportwege nach Deutschland. Es war offensichtlich, dass die Waldbrügger Bürgerschaft mehr aus Kaufleuten als aus Abenteurern bestand. Dann war der Vortrag zu Ende. Maarsen bedankte sich überschwänglich beim Redner und bei den Zuhörern und bat, doch noch auf ein Glas zu bleiben. Die Türen wurden geöffnet und man strömte geräuschvoll aus dem Saal.

      „Deckt sich Weidenmanns Bericht denn mit Ihren Erfahrungen, lieber Doktor?“ Professor Nehringer gesellte sich, nachdem er sich am Buffet mit einem Glas Wein eingedeckt hatte, wieder zu Dr. Köhning und Eduard.

      „Ach, wissen Sie“, erwiderte Dr. Köhning und prostete dem Professor und Eduard mit einem Glas Bier zu. „Afrika ist ein verdammtes Land. Es ist heiß und schwül an der Küste. Im Landesinneren gibt es ein paar Orte, an denen es sich aushalten lässt. Aber für mich ist das auf Dauer kein Land.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir haben für den Bau einer Eisenbahnbrücke beinahe doppelt so lange gebraucht wie geplant.“

      „Aber es ist in vielerlei Hinsicht wichtig, dort präsent zu sein“, wandte der Professor ein. „Und es ist enorm, was unsere Jungs da leisten. Finden Sie nicht?“

      „Ohne Zweifel“, stimmte Dr. Köhning zu.

      Eduard war in Gedanken und hörte den beiden kaum zu. Die Bilder von den Kolonialisten, die sich ihren Weg den Fluss entlang bahnten, ließen ihn nicht los. Nackte Wilde, die hinter den Büschen lauerten, bereit, ihre Speere auf jeden zu schleudern, der in ihr Territorium eindrang. Land, das erschlossen werden wollte … Doch plötzlich erinnerte er sich an das Gemälde Marsch der Truppen auf die Stadt von C. Carstens in der Halle ihres Hauses. Auch dieses Bild hatte für ihn Freiheit und Abenteuer symbolisiert, es hatte ihn begeistert. Und als wie mittelmäßig hatte er es erst heute Morgen empfunden? Ein Gefühl der Ernüchterung überkam ihn im Gedanken daran. Es waren zwei verschiedene Dinge: Die Deklassierung des Gemäldes aufgrund technischer und malerischer Unzulänglichkeiten war eigentlich nicht logisch übertragbar auf die Emotionen, die das Motiv an sich bei ihm hervorgerufen hatte. Und doch war es geschehen. Und noch mehr: Die Mittelmäßigkeit von Marsch der Truppen auf die Stadt nahm Eduard seine aufkeimende Begeisterung für die Abenteuer der Kolonialisten. Überhaupt, dachte er, ist das keine seriöse Beschäftigung für einen Mann. Eine Kinderei, ein Abenteuerspiel für Jungs.

      „Mag sein“, stimmte er Professor Nehringer vage zu, der weiter dabei war, seine Ansichten zur strategischen Notwendigkeit einer deutschen Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent darzulegen. „Mag sein, dass es aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül wichtig ist, dort präsent zu sein. Aber ich habe den Eindruck, als seien die Beweggründe vieler der Männer, die sich da in unseren Kolonien betätigen, nicht immer ganz frei von Eigennutz. Und ich denke, es gibt auch hier viel für unser Land zu tun.“

      Professor Nehringer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

      „Ohne Zweifel, meine Lieber“, sagte er dann. „Ein junger Mann wie Sie kann der Nation an vielen Stellen und in vielen Funktionen nützlich sein.“

      Eduard sah Maarsen aus dem Saal auf ihre kleine Gruppe zusteuern. Kurz schoss ihm der Gedanke an seinen Bruder durch den Kopf und die Erinnerung daran, wie unerfreulich er dieses Gespräch empfunden hätte. Wahrscheinlich hätte er sich über Professor Nehringers Haltung gewundert, den er immer als einen aufgeklärten und distanzierten, unparteiischen Geist angesehen hatte. Offensichtlich aber nahm der Professor eine ziemlich patriotische Haltung zu den Kolonien ein, die Hans als rein politisches Instrument ansah, ganz abgesehen davon, dass man in Hans’ Augen die Schwarzen dort ausbeutete. Und er hatte auch keinerlei Berührungsängste mit dem Nationalen Club und seinem geistigen Führer. Als Maarsen sich zu ihnen gesellte, begrüßte ihn der Professor erfreut.

      „Was für ein interessanter und anregender Vortrag, Herr Maarsen“, rief er. „Vielen Dank.“

      Maarsen nickte, für Eduards Begriffe etwas zu selbstgefällig. Für ihn schien es selbstverständlich zu sein, dass seine Veranstaltung ein Erfolg war. Er hielt sich nicht lange damit auf, sich zu bedanken.

      „Sie war dringend notwendig“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, in Waldbrügg ist vieles notwendig, wenn es um die politische Bildung unserer Bürger geht.“ Er musterte Eduard mit einem neugierigen Blick. „Doch leider nehmen immer noch viel zu wenige unser Angebot an. Doch langsam, aber sicher ändert sich das.“ Er lächelte und streckte Eduard die Hand hin. „Eduard Escher, nicht wahr?“

      Eduard zögerte, drückte sie dann aber mit festem Griff. Wider Erwarten lag Maarsens Hand weich, teigig und leicht feucht von Schweiß in seiner. Erst als er Eduards wohlbemessenen Druck spürte, ging ein Ruck durch ihn. Er riss sich quasi zusammen und erwiderte den Händedruck angemessen.

      Maarsen war ein wenig kleiner als Eduard und seine Augen glitten von seinem Gesicht auf das Revers seines Anzugs und nach unten. Eduard ließ die Hand los und widerstand dem Reflex, seine an der Hose abzuwischen. Der Händedruck und Maarsens nervöser, unsteter Blick, mit dem er scheinbar zu jeder Zeit versuchte, alles erfasst zu halten, was um ihn herum vorging, hinterließen einen unangenehmen Eindruck bei ihm.

      „Ja“, sagte er. „Auch ich möchte mich für diesen äußerst interessanten Vortrag bedanken, Herr Maarsen. Und ganz sicher haben Sie recht, wenn Sie das mangelnde Interesse der Waldbrügger an politischen Themen bedauern.“ Eduard pflichtete ihm zwar bei, aber er spürte auch einen leisen Ärger über Maarsens überhebliche Art und fügte hinzu: „Doch es gibt durchaus auch einige, die sich sehr dafür interessieren.“

      Maarsen wischte sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und lächelte.

      „Sicher, sicher“, beeilte er sich zu sagen. „Jedenfalls freue ich mich, Sie endlich einmal in unserem kleinen Club begrüßen zu dürfen.“

      „Ich habe ihn endlich überzeugen können, abends einmal auszugehen“, sagte Dr. Köhning und wandte sich an Eduard: „Sie gehen entschieden zu wenig aus. Es ist in der Tat nicht einfach, hier in Waldbrügg adäquate Gesprächspartner aufzutun. Und wenn man, wie ich, hier nur vorübergehend in einer kleinen, bescheidenen Pension lebt, bleibt einem nicht viel Unterhaltung …“

      „Der Winter ist vorüber“, fiel Professor Nehringer auffallend eifrig ein. „Eine eher trostlose Zeit in unserem Tal. Aber im Frühling, lieber Dr. Köhning, und im Sommer, da gibt es durchaus wieder mehr Abwechslung in unserem Städtchen. Man spaziert entlang der Flussauen, es finden Konzerte statt … Kleine natürlich, nicht zu vergleichen mit Frankfurt oder Berlin. Aber immerhin … Es gibt ein Frühlingsfest …“

      Maarsen betrachtete ihn kurz und abschätzig, bevor sein Blick wieder unruhig durch den Raum glitt, als suche er jemanden.

      „Vergnügungen, Tanz, Musik. Das ist alles schön und gut, lenkt die Leute aber oftmals zu sehr von den wesentlichen Dingen ab.“

      „Nun ja“, erwiderte Eduard und lachte. „Sie wollen doch meinen alten Lehrer nicht als vergnügungssüchtig tadeln? Ein Spaziergang am Fluss oder ein Konzert sind sicher kein Hinderungsgrund, sich ernsthaft Gedanken über Politik, den Staat oder unsere Kolonien zu machen.“

      Schnell und abrupt wie Fische glitten Maarsens Augen zwischen Professor Nehringer und Eduard hin und her, als müsse er eine Art Verbindungslinie ziehen, um den gesellschaftlichen Zusammenhang der beiden in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.

      „Aber nein“, rief er dann, winkte ab und lachte auf eine schrille Art und Weise, die man als Nervosität hätte auslegen können. Eduard