Dort blieb ich dann eine ganze Woche. Ich sortierte Berge von Post, und wieder war ich überrascht, wie viele Briefe, Päckchen und Pakete die Leute verschickten und erhielten. Waren denn nicht Computer und E-Mails erfunden worden, um Briefpapier und Umschläge zu ersetzen? Anscheinend galt das nicht für Applecross.
Meine erste Arbeitswoche war alles in allem sehr vergnüglich und endete sogar noch mit einer guten Nachricht. Jules, der Briefträger des Dorfes, hatte sich einen Knöchel verstaucht, als er oben bei der Villa des Grauens versucht hatte, seine Hacken vor dem Schäferhund der McBlacks zu retten. Das Ganze schilderte er uns sehr theatralisch, gestenreich und mit dramatischer Stimme und meine Kollegen wirkten ehrlich beeindruckt: Keiner, so beteuerten sie, sollte gezwungen werden, dieser Familie die Post zu bringen.
Nun ja: Es gibt viele Gerüchte über die Brutalität der McBlacks und darüber, weshalb ihr Haus den Namen Villa des Grauens verpasst bekommen hatte, obwohl eigentlich nichts daran wirklich angsteinflößend war, mal abgesehen von den Statuen. Die Meinung des Briefträgers, dass ihr Schäferhund besonders gefährlich war, fand ich maßlos übertrieben. Aber Jules hatte sich wirklich den Knöchel verstaucht, er hatte das Bein hochgelegt und kühlte ihn mit einem Eisbeutel.
»Schlimme Geschichte, Jules …«, sagte eine der Schalterdamen.
Und die andere fragte: »Wenn du so zugerichtet bist, wer soll denn jetzt mit dem Fahrrad die Post austragen?«
Es dauerte keine Sekunde und alle starrten mich an. Und noch schneller hatte ich zugestimmt, die Aufgabe zu übernehmen.
Applecross, ich saß wieder im Sattel! Und ich war wieder im Freien, wo ich mich nun mal am liebsten aufhielt.
VIERTES KAPITEL
DAS FAHRRAD
DIE UMHÄNGETASCHE
DER UMSCHLAG MIT DEN
GOLDENEN BUCHSTABEN
Am zweiten Samstag im Juni, als die Schulen offiziell ihre Tore schlossen und die Listen ausgehängt wurden mit den Namen und Noten der Schüler, die versetzt worden waren, und auch der Schüler, die das Jahr noch einmal wiederholen mussten (nur ich), strampelte ich auf dem Fahrrad des Dorfbriefträgers durch Applecross.
Dusty rannte keuchend hinter mir her, fest entschlossen, mir nicht einen Meter Vorsprung zu gönnen, und wenn die Straße anstieg, stellte ich mich auf die Pedale. Ich hatte das Gefühl, Jules’ Fahrrad könnte jeden Moment unter mir zusammenbrechen, und das wäre gar nicht gut gewesen. Schließlich war das heute mein erster Tag als Briefträger.
Ich hatte mir die Umhängetasche quer über die Brust geworfen, und anders als Jules, der die Umschläge stets vorher ordnete und seine Route plante, ehe er sich in den Sattel schwang, holte ich immer einen Brief nach dem anderen hervor, las die Adresse und machte mich dann auf den Weg. Wie bei einer Schnitzeljagd. Der Job gefiel mir.
Außerdem bedankten sich alle, vor allem auf den Bauernhöfen, überschwänglich dafür, dass ich ihnen die Post brachte. Sie luden mich auf eine Limonade ein, und während der ganzen Zeit hielten sie ihre Hunde am Halsband fest, damit sie weder mich ins Bein bissen noch auf Dusty losgingen. Ich hatte meinen Hund noch nie so glücklich gesehen: Bei jedem Halt markierte er sein Revier, grub mit den Hinterläufen im Gras und lief dann zufrieden und völlig unbehelligt davon. Er jagte meinem Fahrrad hinterher, während die knurrenden Hütehunde mühsam von ihren Besitzern zurückgehalten wurden.
Es war kurz nach eins, als ich aus meiner Umhängetasche den letzten Brief zog, den ich noch ausliefern wollte, bevor ich nach Hause ging, um dort etwas zu essen und eine Pause zu machen.
Es war der Umschlag für die Lilys. Ich erinnere mich noch genau an jenen Moment: Ich befand mich in einer kleinen Seitenstraße mitten im Ort, neben einer langen, von einer niedrigen Trockensteinmauer eingegrenzten Wiese. Am Straßenrand stand eine knorrige Eiche mit einer dichten, verschlungenen Krone. Es war auf den Punkt genau dreizehn Uhr dreizehn. Und mir war gerade ein äußerst merkwürdiger Briefumschlag in die Finger geraten, länglich und mit verschnörkelten Buchstaben, die mit echtem Gold geschrieben zu sein schienen. Der Umschlag kam aus London, von einem gewissen »Klub der Imaginären Reisenden«, und war wie folgt adressiert:
An die ehrenwerte Familie Lily
Zauberladen
36, Eggstones Heaven
Reginald Bay, Applecross (Schottland)
Im ersten Moment hielt ich das Ganze für einen Witz. Das lag sowohl am Absender wie am Empfänger. Ich hatte noch nie von einer Familie Lily in Applecross gehört, auch nicht von einer Reginald Bay oder einem Ort namens Eggstones Heaven. Klar, in Schottland kann sogar jeder Baum mehr als einen Namen haben, aber die hier hörte ich wirklich zum ersten Mal.
Ich weiß nicht wieso, auf jeden Fall schnupperte ich an dem Brief: Er duftete leicht. Und fühlte sich seltsam an. Ich versuchte, ihn zu knicken, aber darin steckte anscheinend nicht einfach nur ein Blatt Papier, sondern etwas wesentlich Festeres. Oder nein, etwas …
Ich musste lachen. Der Umschlag fühlte sich an, als wäre er mit Sand gefüllt, der von einer Seite zur anderen rieselte, je nachdem, wie man ihn hielt.
»Wie bei einer Sanduhr«, murmelte ich leise vor mich hin und hielt den Umschlag gegen das Licht. Ich zermarterte mir das Hirn über die Adresse, aber das war sinnlos. Da lief es mir plötzlich eiskalt den Rücken hinab. »Lass uns nach Hause gehen, Dusty, okay? Vielleicht können wir mit vollem Magen besser denken.«
Dusty bellte mich glücklich an.
Ich radelte ruhig zum Hof meiner Eltern, ohne zu bemerken, dass von den Ästen der Eiche, unter der ich angehalten hatte, langsam eine Gestalt herabsegelte, die in einen Spiegelumhang gehüllt war. Ein Mann oder eine Frau oder eher noch ein Zauberwesen, mit einer langen Hakennase und blauen, eiskalten Augen, die mir neugierig hinterherblickten.
Ich glaube, das war ein Bote der Askells, wenn nicht gar Samuel Askell höchstpersönlich, aber damals konnte ich das natürlich noch nicht wissen.
Ich war völlig ahnungslos, denn noch hatte ich den Umschlag mit den goldenen Buchstaben nicht ausgeliefert. Und noch war nichts geschehen.
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