In dieser Hinsicht ist es interessant, dass Percy Sands auch vom „Kick and Rush“ sprach, als er in seinem oben erwähnten Beitrag die verschiedenen Spielweisen auflistete. Das nämlich ist sicher keine Variante des Fußballs, die irgendein Trainer bewusst befürworten würde. Jackson hat auch kein Beispiel für einen Spieler gefunden, der diese Spielweise für seine eigene Mannschaft angegeben hätte. Dennoch legt die Verwendung dieses Begriffs nahe, dass allgemein der Fußball in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schneller und aggressiver wurde, also genau die Intensität aufwies, wie man sie auch vom Pokalfußball kannte.
Eine übermäßig schnelle Spielweise war in England besonders stark ausgeprägt. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde dieses Problem zunehmend diskutiert, doch schon vor dem Ersten Weltkrieg war man sich bewusst, dass der englische Fußball immer schneller wurde, eventuell sogar in schädlichem Ausmaß. „Nach umfangreicher Erfahrung sowohl im schottischen wie im englischen Fußball sage ich ohne zu zögern, dass der schottische Fußball tatsächlich langsamer ist, obgleich die Schotten nach meiner Ansicht mit weniger Anstrengung auf das gleiche Ergebnis wie die Engländer kommen“, schrieb Looker-On 1910 (wobei er natürlich Schotte war). „Dass erstklassiger Fußball in Schottland genauer kalkuliert, planvoller und dementsprechend langsamer als englischer Fußball ist, wird praktisch jeder Schotte zugeben, und ich darf vielleicht sagen …, dass die Kaledonier in aller Regel sehr stolz auf diese Tatsache sind. Die schottischen Dorfvereine spielen ein dem durchschnittlichen Fußball in den professionellen englischen Ligen sehr ähnliches Spiel, was in erstklassigen Kreisen in Schottland geringschätzig als ‚Kick-and-rush-Fußball vom Dorf‘ bezeichnet wird. Abseits des Fußballs sind die Schotten durchaus genauso schnell wie die Engländer. Spielen sie indessen Fußball, scheinen sie in höherem Grade als die Angelsachsen einen ‚Kopfsport‘ zu spielen.“
Drei Jahre später hatte Looker-On seine These weiter ausdifferenziert. Nun stellte er fest, dass die unterschiedliche Spielweise in England und Schottland nicht bloß auf die Spieler zurückzuführen war, sondern auch auf die jeweilige Fußballkultur. Looker-On schrieb: „In Schottland … ist der Fußball langsamer, da die schottischen Zuschauer wissen, dass ein Mann, der den Ball über das halbe Spielfeld führt, diesen ganzen Aufwand nicht bloß zu dem einzigen Zweck betreibt, prima dabei auszusehen. Den schottischen Zuschauern nämlich ist wohlbekannt, dass der Ausführende am Ende eines solchen Dribblings den größten Teil der gegnerischen Verteidigung auf sich gezogen haben kann, mit dem Resultat, dass bei seinem Pass ein Kamerad frei vor dem Tor steht. In England wird ein Mann, der etwas Derartiges probiert, den Unmut der Zuschauer deutlich zu spüren bekommen. Dort wird man ihm zu verstehen geben, dass er sich vom Ball trennen soll oder es selbst erledigen müsse, und der schottische Fußball würde in England für lange Zeit auf keine Gegenliebe stoßen; nicht bevor die englischen Zuschauer ihn zu verstehen beginnen. Mehrfach haben Leute zu mir gesagt: ‚Was für ein Erfolg [Johnny] Walker oder [Jimmy] McMenemy wohl in England zuteilgeworden wäre‘, und ich habe dem stets widersprochen. Die beiden eben erwähnten Stürmer wären in beinahe jedem Stadion in England bis zur Abscheulichkeit mit Buhrufen bedacht worden, weil die Zuschauer ganz einfach nicht verstanden hätten, was die Stürmer im Sinn haben.“
Den Spielern war bewusst, dass das hohe Tempo negative Auswirkungen hatte. „Zu sagen, dass einem Spieler die Schnelligkeit fehle, ist in den Augen der Mehrzahl der Fußballanhänger ein vernichtendes Urteil“, meinte West Broms Flügelstürmer A.C. Jephcott 1914 dazu. Die Folge sei, dass „handwerkliches Geschick und Raffinesse bei Taktik und Ballkontrolle nachrangig behandelt zu werden scheinen“. Flügelstürmer Jocky Simpson, der zwar in Lancashire geboren wurde, aber bereits in jungen Jahren nach Schottland gezogen war und sowohl für den FC Falkirk als auch die Blackburn Rovers spielte, hegte keinen Zweifel daran, dass der englische Fußball schneller war. Darin sah er auch den Grund für die schrumpfende Anzahl an Toren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. „Meiner Meinung nach ist das unheimliche Tempo, mit dem in England Fußball gespielt wird, die hauptsächliche Ursache für die dürftige Trefferzahl“, sagte er. „Man scheint mir zu viel für die simple Vorstellung zu opfern, ‚vorwärts zu kommen‘.“
Doch ob man nun schnell oder langsam spielte, mit kurzen Pässen, in Dreiecken oder von Flügel zu Flügel oder gar das Dribbling alter Schule praktizierte – die Schottische Furche, die „Pyramide“, blieb weltweit der Standard. Erst mit der Änderung der Abseitsregel konnte in England das W-M-System entstehen. So wie es einmal die „richtige“ – sprich: einzige – Spielweise gewesen war, zu dribbeln oder alles nach vorne zu werfen, hatte sich nun das 2-3-5 zum Maß aller Dinge entwickelt.
KAPITEL 2
Walzer und Tango
Bald erfreute sich Fußball auch außerhalb Großbritanniens wachsender Beliebtheit. Fast überall, wo die Briten Handel trieben und Geschäfte machten, breitete sich das Spiel aus. Dies beschränkte sich keineswegs nur auf das Empire als solches. Schließlich konnte man mit dem Export von Kupfer aus Chile ebenso Geld verdienen wie mit Guano aus Peru, Fleisch, Wolle und Tierhaut aus Argentinien und Uruguay oder Kaffee aus Brasilien und Kolumbien. Sogar Bankgeschäfte waren überall möglich. In den 1880er Jahren waren 20 Prozent der britischen Auslandsinvestitionen auf Südamerika konzentriert, und um 1890 lebten 45.000 Briten im Großraum von Buenos Aires. Daneben gab es kleinere, aber ebenfalls bedeutende britische Gemeinden in São Paulo, Rio de Janeiro, Montevideo, Lima und Santiago de Chile. Die Briten betrieben dort nicht nur Geschäfte, sondern gründeten auch Zeitungen, Krankenhäuser, Schulen und Sportvereine. Sie beuteten die natürlichen Ressourcen Südamerikas aus und ließen dafür den Fußball zurück.
In Europa verlief die Geschichte ähnlich. Wo immer es eine britische Gemeinde gab, ganz gleich, ob sich ihre Existenz auf diplomatische Beziehungen, Bankgeschäfte, Handel oder Technik gründete: Prompt verbreitete sich dort der Fußball. In Budapest war Újpest, 1885 an einem Gymnasium gegründet, der erste Klub, dem bald darauf MTK und Ferencváros folgen sollten. In Wien mit seiner großen britischen Kolonie wurde Fußball zunächst noch von Angestellten der Botschaft sowie der Banken und verschiedenen Handels- und Ingenieurunternehmen gespielt, konnte sich aber bald breiter etablieren. Am 15. November 1894 fand das erste Spiel in Österreich statt. Der Vienna Cricket Club trat gegen die Gärtner der Anwesen des Barons Rothschild an. Das Interesse vor Ort war so groß, dass Ende 1910 von ehemaligen Mitgliedern des Cricket Club der Wiener Amateur-SV gegründet wurde.
Bei den Tschechen dagegen konkurrierte der Fußball zunächst mit Sokol, der dortigen Variante des in Deutschland so beliebten und nationalistisch gefärbten Turnens. Da sich aber eine wachsende Zahl junger Intellektueller aus Prag an London und Wien orientierte, schlug das Spiel auch dort rasch Wurzeln. Als 1897 der für alle Mannschaften des Habsburgerreiches offene Challenge Cup eingeführt wurde, stieg das öffentliche Interesse weiter an.
Anglophile Dänen, Niederländer und Schweden waren nicht minder schnell darin, sich das Spiel anzueignen. Die Dänen erwiesen sich sogar als so stark, dass sie bei den Olympischen Spielen 1908 in London die Silbermedaille erringen konnten. Nirgends indes dachte man daran, in taktischer oder sonstiger Hinsicht irgendetwas anders zu machen als die Briten. Schaut man sich Fotografien niederländischer Sportvereine aus dem späten 19. Jahrhundert an, fühlt man sich an das viktorianische England erinnert: überall nach unten zeigende Schnurrbärte und gespielte Gleichgültigkeit. Maarten