Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jonathan Wilson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783730704479
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gewonnen zu haben schien. In dem Moment spielte er einen wunderschön bemessenen Pass, stets auf Höhe der Rasenkante, zu seinem am besten positionierten Mannschaftskameraden, während er selbst die gefährlichste Position für den zurückkommenden Ball einnahm. Er schien mehrere ‚Züge‘ gleichzeitig zu sehen, wie beim Dame-Spiel. Sehr oft konnte ich beobachten, wie er einen Pass spielte und dann in die Position für ein Anspiel zurückging, auch wenn er wusste, dass der Ball zuvor noch von wahrscheinlich zwei oder mehr Männern seiner Truppe gespielt werden musste.“

      Das war der Kern des schottischen Fußballs. Es war im Grunde genommen eine vorsichtige Weiterentwicklung der Spielweise aus Passen und Laufen, von der 1872 die arglosen Engländer überrascht wurden. Eine Variante der Kurzpassidee, die durch Newcastle bekannt wurde, war das sogenannte triangular game, das „Dreiecksspiel“. Dazu gehörten Passstafetten zwischen dem Außenläufer, dem Halbstürmer und dem Außenstürmer auf einem oder auch beiden Flügeln. Newcastles Bob Hewison, der diverse Rollen auf der linken Außenbahn übernehmen konnte, sprach in diesem Zusammenhang vom „Spiel mit sechs Stürmern“, was auf die offensive Ausrichtung hindeutet. „Die Kritiker betrachten es als Fußball in Reinform, als die Wissenschaft und Kunst der Kurzweil.“ Es war jedoch eine vergleichsweise Seltenheit, hauptsächlich deshalb, weil die richtige Umsetzung so schwierig war. „Man kann Individualität, Verstand, Anpassungsvermögen und Tempo gar nicht zu viel Bedeutung zumessen“, schrieb Hewison. „Die Anforderungen sind so umfangreich, dass nur ein wahrer Künstler solcherart spielen kann. Doch gibt es keinen Grund, weshalb diese Kunst nicht kultiviert werden sollte, da sie den unverfälschten Fußball darstellt.“

      Für ihn wie für jeden sonst, der unter der Wirkung des schottischen Fußballs stand, mag das so gewesen sein. Im Süden Englands hingegen hielt sich die Denkweise, dass die stärker auf Muskelkraft ausgerichtete Variante des Fußballs die reinere darstelle. Die Londoner Corinthians, leidenschaftliche Anhänger des Amateurideals und, zumindest nach eigener Ansicht, Verfechter der besten Traditionen des Fußballs, hingen auch weiterhin dem Dribbeln und dem körperbetonten Spiel an. Gegründet hatte den Verein Nicholas Lane Jackson, ebenjener FA-Funktionär, der auch den Feldzug gegen den Einsatz von Profis bei Preston North End angeführt hatte. Er bestand darauf, dass „der Pass nach vorne während des Laufens“ das prägende Element der eigenen Spielweise sein müsse. „Die gesamte Sturmreihe läuft gemeinsam los und hält nicht an, so lange sie nicht den Ball verliert oder auf das Tor schießt“, sagte C.B. Fry, zu dessen zahlreichen sportlichen Meriten auch Einsätze für die Corinthians zählen. „Bei dem wissenschaftlichen und überaus gescheiten Kurzpassspiel der Profistürmer bleiben die Spieler oft stehen oder weichen nach hinten aus; diese Methode, mit der man zwar häufig den Ball halten kann, hemmt also den Angriffsschwung.“

      Das mag zunächst einmal wenig raffiniert klingen, allerdings hatten die Corinthians Ende der 1890er Jahre mit G.O. Smith einen Mittelstürmer, der lieber die Bälle an seine Flügelspieler und Mitspieler verteilte, als selbst Tore zu schießen – vielleicht ein erster Vorläufer einer falschen Neun. Auch nach Ansicht von Klassestürmer Steve Bloomer, der an der Seite von Smith für England spielte, hat Smith „die Rolle des Mittelstürmers von der eines individualistischen Torjägers zu einem Spieler gewandelt, der die Sturmreihe, ja die gesamte Mannschaft miteinander verband“.

      Im Profibereich zeigte sich die direktere Herangehensweise tendenziell als offene oder über die Flügel laufende Spielweise. „Die gefährlichste Form des Angriffsspiels ist die sich verlagernde, offene Spielweise, mit langen Pässen aus dem Zentrum auf die Flügel und von den Männern auf den Halbpositionen auf dem einen Flügel auf die Flankengeber auf dem anderen“, erklärte Andrew Wilson, Halblinker bei Sheffield Wednesday. „Wenn man den Ball solcherart zirkulieren lässt, wissen die Verteidiger nicht, wo sie einen kriegen sollen. Stürmern, die am Balle kleben bleiben, können sie wohl die Luft zum Atmen nehmen, doch wenn es flink hin und her geht, geraten sie in Verlegenheit.“ In den Worten von Wednesdays Halbrechtem Billy Gillespie gehörten zu dieser Taktik „schwungvolle Pässe vom Halbstürmer auf dem einen Flügel zum Außenstürmer auf dem anderen, mit weiten Pässen vom Mittelstürmer auf beide Seiten“.

      Diese Spielweise kam etwa bei Blackburn Olympic zum Einsatz und wurde Mitte der 1880er Jahre von West Bromwich Albion weiterentwickelt. West Brom hatte 1886 und 1887 das Endspiel um den FA-Cup verloren, und kaum einer setzte auf sie, als sie im Finale 1888 auf das übermächtige Preston trafen, das in der ersten Runde den FC Hyde mit 26:0 ausgeschaltet hatte. Bei Preston war man sich seiner Sache so sicher, dass man den Schiedsrichter, Major Francis Marindin, fragte, ob man sich nicht vor dem Anpfiff mit dem Pokal fotografieren lassen könne. „Solltet ihr den nicht vorher auch gewinnen?“, entgegnete der.

      

      Die Spieler von Preston beklagten sich später, dass sie vor dem Spiel noch beim University Boat Race zugeschaut hätten und dabei steif geworden seien. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, jedenfalls setzten sich vor 17.000 Zuschauern (dem ersten ausverkauften Spiel der Fußballgeschichte) „West Bromwichs weite Pässe und offener Fußball“ durch, wie Geoffrey Green es beschrieb. Schlüssel zum 2:1-Sieg war der kleinwüchsige Rechtsaußen W.I. Bassett, der noch am gleichen Abend in die englische Mannschaft gegen Wales berufen wurde und in den folgenden acht Jahren Stammspieler im Nationalteam bleiben sollte. „Zu seiner Zeit gingen die Spieler Richtung Eckfahne und hoben dann von dort aus ihre Flanken in die Mitte vor das Tor, doch unterwarf sich Bassett niemals solchen Methoden“, sagte Green. „Er schwor darauf, möglichst rasch Raum zu gewinnen (sein Antritt war sagenhaft) und den Ball so präzise und so schnell wie möglich abzuspielen, noch bevor die Verteidigung Zeit hatte, sich wieder zu fangen.“

      Schon früh gab es die Wahrnehmung, dass das Kurzpassspiel etwas für die Künstler war und der Fußball mit langen Bällen für diejenigen, die technisch vielleicht weniger beschlagen waren und das Beste aus ihrem limitierten Können machen wollten. „Da kam eine Mannschaft, die komplett aus Staffordshire stammte und deren Gehaltsabrechnung nicht mehr als zehn Pfund pro Woche betrug, und traf auf die Macht aus Preston, eine Truppe von hochbezahlten Künstlern, nicht wenige von ihnen gefeierte schottische Experten“, schrieb Green.

      In Schottland hegte man keinen Zweifel daran, dass die reinste Form des Fußballs das Kurzpassspiel war. Das lässt sich am vielleicht deutlichsten an der Ablehnung erkennen, die die Glasgower Zeitungen dem Spiel mit langen Bällen entgegenbrachten, wie es von den Vereinen aus Dumbartonshire (FC Renton, FC Vale of Leven und FC Dumbarton) praktiziert wurde. Als Renton als schottischer Pokalsieger im sogenannten Champions-of-the-World-Spiel 1888 gegen FA-Cup-Sieger West Bromwich Albion antrat, zeigte Renton einen derart rohen Fußball, dass die schottische Presse als ausdrücklicher Befürworter des Kurzpassfußballs von Queen’s Park ihre Sympathie für West Brom nicht verhehlen konnte – und das, obwohl West Brom selbst für sein direktes Spiel nach vorn bekannt war. Die Spielweise Rentons muss also schon sehr weit vom Fußball Queen’s Parks entfernt gewesen sein.

      

      Das Faible der Klubs aus Dumbartonshire für den langen Ball war schon sprichwörtlich, so dass der Scottish Umpire in einem Vorbericht zu einem Gastspiel von Barnsley bei Celtic Glasgow die „kurze und künstlerische“ Spielweise von Celtic gegen „den verwegenen, wagemutigen alten Renton-Fußball Barnsleys“ abgrenzte. Die Begegnung endete mit einem 1:1. Das war Anlass genug für das englische Referee’s Notebook, darüber nachzusinnen, dass „wir es in der Vergangenheit zwar gewohnt waren, die maschinenartigen Pässe von Aston Villa und die ausgezeichnete individuelle Klasse mancher Spieler West Bromwichs zu bestaunen, nie zuvor jedoch eine solche Kombination aus Kunstfertigkeit, grenzenlosem Enthusiasmus und waghalsiger Taktik wie jene gesehen haben, welche die Männer aus Yorkshire zeigten. Einigen Leuten schien der waghalsige Teil des Fußballs nicht zu gefallen, doch ist dies die neue englische Spielweise. … Das Spiel war den weiten Weg wert, und sei es nur, um den deutlichen Unterschied in den Spielweisen zu sehen. Celtic hat sich Anerkennung für die Art und Weise verdient, in der es sich gegen dermaßen mannhaft entschlossene Gegner stemmte. Es handelte sich um Barnsleys erstes Spiel der Saison, und es sagt viel über die Qualität ihres Trainings aus, dass die Männer das Spielfeld beinahe so frisch verließen, wie sie aus dem Pavillon aufgetaucht waren.“ Dass man Barnsley in England als fortschrittlich erachtete, in Schottland hingegen mit den Spießbürgern