Verhängnisvoll für die Entwickelung der Physik in den beiden folgenden Jahrtausenden ward nun der Ausweg, den Platon ergreifen mußte, um das Eintreten einer Veränderung überhaupt, um die Bewegung der Elementarteilchen zu erklären. Ganz wie in unseren kinetischen Theorien der Materie beruht auch bei Platon jede Veränderung körperlicher Eigenschaften auf Bewegung. Ein Körper wird durch Wasser aufgelöst, nicht durch Luft, weil die Teilchen des Wassers infolge ihrer Größe die Teilchen des Körpers (der Erde) auseinander treiben, während die kleineren Luftteilchen zwischen jenen hindurchgehen können, ohne den Zusammenhang zu schädigen. Ist aber der Körper fest zusammengepreßt, so sind nur die Feuerteilchen imstande sich hindurchzudrängen und ihn zu schmelzen. Alle Veränderungen geschehen allein durch die gegenseitige Verdrängung der kleinsten Körperteilchen. Auch die Anziehung der Körper, wie beim geriebenen Bernstein oder beim Magneten, ist nur eine scheinbare, keine wirkliche; auch sie beruht auf einem Druck, den die sich nähernden Körper von außen erleiden. Denn da es nach Platon keinen dauernd leeren Raum geben kann, so sind die Elemente gezwungen, in einem Kreislauf nach ihrem natürlichen Orte, dem sie zustreben, zurückzukehren.
Warum aber, wird man hier fragen, setzen sich die Elemente überhaupt in Bewegung? Warum teilen sich die Elementarkörperchen? Wo sind die mathematischen Gesetze, welche diese Veränderungen bestimmen? Im letzten Grunde muß die Ordnung der Bewegung von den ewigen Ideen, den zwecksetzenden Bestimmungen abhängen. Aber wie können diese die Materie bewegen? Das Gesetz der Veränderung, das zwar als Zweckmäßigkeit in den Ideen liegt, muß auch zugleich im Raum, im gestaltlosen Stoffe, als gestaltbildend tätig sein. Und zu diesem Zwecke führt Platon eine neue Hypothese ein, das ist die Weltseele. Die Weltseele ist das All, insofern es Selbstbewegung enthält. Sie knüpft die sinnliche Erscheinung an die ewigen Ideen und realisiert in jener das mathematische Gesetz der Bewegung; mit einem Worte, sie enthält das Gesetz der Wechselwirkung.
Mit dieser Auffassung der dynamischen Wechselwirkung als der Betätigung einer Weltseele ist nun der Verzicht auf eine mathematisch-mechanische Welterklärung vollendet die in dem Grundgedanken Platons so verheißungsvoll angestrebt war. Die dichterische Weltauffassung hat die mathematische zurückgedrängt. Es ist ja für die junge unerfahrene Wissenschaft der Natur der nächstliegende Gedanke. Veränderungen in der Welt sehen wir vor allem ausgehen von unserem eigenen Körper, und wir sind uns bewußt, diese Veränderungen mit Bedacht hervorzubringen. Woher also sollen die Veränderungen in der Natur überhaupt stammen, zumal wenn sie vernünftigen Zwecken dienen sollen, als von einer Vernunft? Also von einer Seele, die in der Welt ebenso bewegend schafft wie unser Geist in unserem Körper. Oder richtiger: Wie die Bewegungen unseres Körpers als zweckmäßige sich von selbst dadurch erklären, daß wir uns dieser Zwecke bewußt sind, so sind – wie es scheint – auch die Veränderungen in der Natur zu erklären durch eine das Weltall durchsetzende Kraft, die nach Art der Seele zu denken ist.
So schlug bei dem Schöpfer des Grundgedankens der Naturwissenschaft die Mathematik in Psychologie um; die Wechselwirkung ward zur Weltseele.
II.
Von der Weltseele zum Weltäther
Das Grundproblem aller Naturerklärung ist gleichbedeutend mit der so einfach klingenden Frage: Worin besteht die Wechselwirkung der Dinge? Die Realität des mathematischen Gesetzes, die den Gedankengang Platons beherrschte, gibt uns nur einen Teil der gesuchten Aufklärung über die Realität der Dinge. Die majestätische Ordnung des Gesetzes steht zu unvermittelt über dem bunten Inhalt der sinnlichen Erfahrung. Es muß noch eine andere Realität geben als die mathematische Form, einen Inhalt in den Dingen, der im Raum sich stößt und treibt, den wir als Empfindung in Ton und Farbe, als Druck und Wärme erleben. Wie kann sich die Wissenschaft dieses Inhalts bemächtigen? Die Geschichte der Erkenntnis geht auch hier von der naiven Anschauung kindlicher Erfahrung aus.
Daß wir unseren Körper bewegen und diese Bewegung auf andere Körper übertragen, ist eine Wahrnehmung, durch die wir überhaupt in unser Ichbewußtsein hineinwachsen. Wir suchen daher zunächst keine Erklärung dafür, sondern nehmen im Gegenteil diese Tatsache als Ausgangspunkt aller Erklärung. Aber auch für die Übertragung und den Ursprung der Bewegung pflegt es für den Menschen, der über seine Umgebung nachzudenken beginnt, eines schönen Tages irgend ein Weltmittel der Erkenntnis zu geben, das ihn plötzlich vor die Frage stellt: Wie ist das möglich? Irgend ein künstlicher Mechanismus, gewöhnlich eine Uhr, vielleicht eine Dampfmaschine oder Ähnliches, bringt dann eine plötzliche Erleuchtung: Es gibt ganz bestimmte mechanische Gesetze, die in den Gegenstände die Bewegung beherrschen, und deren Wirkung wir zugleich in der Empfindung sinnlich spüren.
In einem Uhrwerk freilich können wir noch die Wechselwirkung der bewegten Teile sozusagen mit den Händen greifen. Das Geheimnisvolle, in welchem die Tiefe des Problems der Wechselwirkung unserem Geiste aufgeht, tritt erst dann auf, wenn eine ungewohnte Wirkung durch unsichtbare und untastbare Mittel von uns wahrgenommen wird. Bei jedem, dem physikalische Experimente oder ähnliche technische Verrichtungen nicht vertraut sind, erweckt es stets ein bewunderndes und immer zu neuen Versuchen anspornendes Staunen, zu beobachten, wie die Magnetnadel sich von selbst wieder nach Norden einstellt, oder wie sie durch die Annäherung eines Magnetpols von der einen Seite abgestoßen, nach der anderen angezogen wird. Man kann dann mit Sicherheit auf die Frage rechnen: Wie kommt das? Aber wie kommt es, daß wir an der Erde haften und der geworfene Stein wieder herabfällt? Und warum fällt der Mond nicht auf die Erde, die Erde nicht auf die Sonne? Der Gelehrte wird uns zwar sagen, sie fallen tatsächlich, bloß immer ein bißchen vorbei; Newton hat uns ja gelehrt, daß Stein, Mond und Erde nach demselben Gesetze fallen. Aber dieses Gesetz? Das ist es eben! Wie machen es die Körper, daß sie wissen, was das Gesetz von ihnen verlangt? Warum müssen sie? Und wie macht es das Gesetz, daß ihm die Körper gehorchen? Was verbindet die Magnetnadel und den Nordpol, die Erde und die Sonne?
Wie machen wir es denn selbst, wenn wir uns bewegen? Wenn wir ganz ehrlich sind und uns genau beobachten, so wissen wir es allerdings selber nicht. Es kitzelt uns jemand, und wir lachen oder stoßen ihn fort; es winkt uns jemand, und wir laufen auf ihn zu; wir hören und erheben die Stimme zur Antwort. Wir wissen nicht, wie es geschieht, aber wir machen es eben. Dagegen, wenn wir tot sind, so kann uns ganz dasselbe geschehen, Kitzeln, Winken, Rufen – wir rühren uns nicht. Also, das scheint klar, wir bewegen uns, weil wir lebendig sind. Wodurch aber sind wir lebendig?
Darauf ist nun die uralte Antwort die: Wir leben, weil wir eine Seele haben. Das wäre ja auch ganz schön, wenn man genau wüßte, was eine Seele ist. Es gibt zwar viele kluge Leute, die behaupten, es ganz genau zu wissen, sogar, daß sie unsterblich sei; nur sind die Ansichten darüber leider außerordentlich mannigfaltig. Vielleicht könnte man mit nicht minder gutem Rechte sagen: Wir haben eine Seele, weil wir leben.
Früher habe ich behauptet, man könnte ebensogut annehmen: »Wir haben Vorstellungen, weil es Objekte gibt«, als: »Es gibt Objekte, weil wir Vorstellungen davon haben.« Dieselbe Frage tritt hier wieder auf, nur eingeschränkt auf das Objekt, das wir den Lebensprozeß des menschlichen Körpers, speziell des Nervensystems, nennen. Leben wir als organische Wesen, weil wir eine Seele haben, oder haben wir eine Seele, weil wir als organische Wesen leben? Beides zu bejahen ist richtig und doch nicht genau. Das organische Leben und das Beseeltsein ist wieder nur der Ausdruck für dieselbe Tatsache,