Was wir hier aus der tatsächlichen Entwickelung der abendländischen Kultur als den Plan der Erziehung des Menschengeschlechts mutmaßen, das läßt sich andererseits aus dem Gedankengange Platons erläutern, durch den der Begriff des »Apriori« sich ihm gestaltete. Es kam ihm darauf an, Realitäten aufzufinden, welche die Wirklichkeit der Dinge sicherer verbürgten als der oft täuschende Schein der sinnlichen Erfahrung. Als eine solche Realität hatte ich bisher nur das mathematische Gesetz genannt, weil es für die Möglichkeit der Naturwissenschaft entscheidend ist. Für Platon jedoch als den Schüler des Sokrates, war noch eine andere Realität die ursprünglichere und bestimmende, das war die Idee des Guten, d.h. die Frage nach dem Wesen der Tugend, die ethische Beurteilung. Und diese Realität, welche über die Wirklichkeit der Dinge entscheidet nach dem Werte, den sie in sittlicher Hinsicht als Vorbilder besitzen, sie war es, die für die nächsten zwei Jahrtausende das Interesse der Menschheit vor allem in Anspruch nahm.
Was gut ist, was schön, was vollkommen ist und als Muster gelten soll, das findet sich ja in seiner Reinheit nirgends in der Erfahrung, das ist vielmehr eine Förderung, die an die Erfahrung gestellt wird. Hier also ist ein solches Prinzip der Beurteilung, das der Erfahrung vorschreibt, wie sie sein soll, ein Apriori; Platon nennt es eine Idee, eine Bestimmung, die über dem vergänglichen Sein der sinnlichen Dinge steht. Die Realität der Dinge besteht in ihrer Anteilnahme an den Ideen; inwieweit sie der Idee der Vollkommenheit entsprechen, insoweit sind sie der flüchtigen und nichtigen Erscheinung entzogen und besitzen Dauer. Für den Hellenen aber besteht das Wesen der Vollkommenen, womit das Gute und das Schöne zusammenfällt, in dem harmonisch Maßvollen, in der richtigen Abmessung. Das Maß verbürgt die Zweckmäßigkeit. Insofern also werden die sinnlichen Dinge auf die Realität der Idee Anspruch erheben können, als in ihnen die Bedingung zweckvoller Abmessung erfüllt ist. Die Wissenschaft des Maßes aber ist die Mathematik. Darum sind es nach Platon die mathematischen Beziehungen in den Dingen, welche sie über die Vergänglichkeit der Sinne erheben und ihnen Realität verleihen. In der Gesetzmäßigkeit der Figuren und Zahlen sind die Dinge mit Sicherheit zu erkennen: daher sagt Platon, daß das Mathematische die Verbindung herstelle zwischen den sinnlichen Dingen und den Ideen.
Damit nun auf diesem Grundgedanken eine Wissenschaft von der Natur sich wirklich aufbaue, mußte man aber wissen, welches besondere Verhalten der sinnlichen Dinge so beschaffen sei, daß sich in ihm mathematische Gesetze auffinden ließen. Dieser Punkt wurde verfehlt. Es führte dabei irre, daß sowohl bei Platon selbst als in der ganzen nachfolgenden Zeit das Interesse auf die ethische Idee gerichtet war, und daher auch die Natur unter dem Gesichtspunkt des Zwecks betrachtet wurde. Der Zweck aber setzt voraus, daß man bereits den Begriff dessen hat. was erreicht werden soll. Er ist deshalb ein unentbehrliches Erkenntnismittel für das menschliche Handeln. Man glaubte nun, daß auch die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit sich erkennen lasse, indem man die Zwecke aufzusuchen sich bemüht, denen sie dienen soll. Aber dadurch werden stets die Beweggründe des menschlichen Handelns und seine Ziele in die Natur hineingetragen, und es kommt nicht zum Bewußtsein, daß in der Natur eben eine andere Art des Geschehens vorliegt als im sittlichen und künstlerischen Gestalten. Man gelangte nicht zu der Einsicht, daß gerade die Notwendigkeit des gesetzlichen Geschehens es sei, wodurch die Natur als ein besonderes Gebiet abgegrenzt werde; und obwohl Platon lehrte, daß eine solche Notwendigkeit im mathematischen Gesetz gegeben sei, so suchte man das Gesetz doch an einer falschen Stelle, man suchte es in der fertigen Anordnung der Eigenschaften, statt in ihrem zeitlichen Werden. So konnte man wohl zu einer systematischen Einteilung und Beschreibung der Natur mit Erfolg vorschreiten, aber nicht zur Erkenntnis des gesetzlichen Geschehens; man erkannte wohl die Verschiedenheit der Dinge, aber nicht das Gesetz ihrer Veränderung. Die kausale Erklärung der Natur konnte auf diesem Wege nicht gelingen.
Platon selbst war sich sehr klar der Beschränkung bewußt, die er durch seine Lehre der Naturerkenntnis auferlegte. Aber er hielt diese Beschränkung für unvermeidlich, weil in dem Wesen der Sache selbst begründet. Er hatte ja deutlich gesehen, daß die großen und einfachen Gesetze, wie die Gebote der Sittlichkeit, in der Welt der ewigen Ideen und nicht im Wechsel der sinnlichen Erscheinungen zu suchen seien. Und diese unveränderliche Körperwelt mit ihren Eigenschaften hielt er für etwas so Kompliziertes, daß es dem menschlichen Geist überhaupt nicht möglich sei, die absolute Wahrheit hier zu erkennen, daß es dieser vielmehr stets nur zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit bringen könne. Wer möchte deshalb Platon tadeln? Es ist ja wahr, die Fülle der Erfahrung ist unermeßlich, und die Erkenntnis der Natur besteht in der unablässigen Korrektur ihres Bestandes; aber das eben ist Wissenschaft. Daß trotzdem diese »Wahrscheinlichkeit« des Naturerkennens sich der Gewißheit so weit nähern könne, daß sie mit Sicherheit Naturerscheinungen vorauszusagen gestattet, daß sie Vorgänge berechnet, die kein Auge sieht, und Körper beschreibt, deren Dasein die Erfahrung erst nachträglich bestätigt, das würde Platon als eine herrliche Bestätigung seiner Lehre betrachtet haben; er hatte nur nie zu hoffen gewagt, daß die Naturwissenschaft eine solche Höhe erreichen könne, weil zu seiner Zeit noch alle Erfahrung darüber fehlte, welche Größenverhältnisse im Wechsel der sinnlichen Erscheinungen sich nachweisen ließen. Er wußte nicht, daß die Veränderung der Farbe sich als eine Veränderung der Größe der Wellenlänge messen läßt, nicht, daß bei der Verbrennung des Holzes vor und nach dem Verbrennungsprozeß alle Bestandteile auf der Wage zu kontrollieren sind, kurzum er kannte nicht die Einzelheiten, in denen die quantitativen Bestimmungen der Dinge bestehen. Daher zeigt sich zwischen der platonischen und der modernen Auffassung über die Grenzen, welche der menschlichen Erkenntnis gesetzt sind, eine höchst eigentümliche Umkehrung. Wir sind der Ansicht, daß innerhalb der Erfahrung, soweit die Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung reicht, durch die Methoden der Naturwissenschaft eine sichere objektive Erkenntnis der Dinge möglich ist, daß dagegen jenseits der Erfahrung, wo Raum und Zeit ihre Ordnung uns nicht mehr leihen, auch die Kraft der Erkenntnis erlahme und das Reich des Glaubens beginnt. Platon – und damit beherrschte er die zwei folgenden Jahrtausende – war entgegengesetzter Ansicht; in der Erklärung der Körperwelt sieht er nur eine Übung des Scharfsinns, die zu beweisbaren Resultaten nicht führen könne. Darum sagt er: »Und wenn einer zur Erholung die Untersuchungen über das Ewige beiseite legen und die wahrscheinlichen Ansichten über das Werden genau in Betracht ziehen wollte, um sich einen Genuß zu verschaffen, dem keine Reue folgt, so dürfte er wohl ein geziemendes und verständiges Spiel im Leben treiben.«
Also ein Spiel nennt Platon die Versuche, die Veränderungen der Körper auf mathematische Gesetze zurückzuführen; zwar ein geziemendes und verständiges Spiel ist es, ein Genuß, dem keine Reue folgt, weil er kein sinnlicher Genuß ist, aber doch ein Unternehmen, dem eine Sicherheit des Erfolges nicht entspricht; nicht darum, weil jene Gesetze nicht vorhanden wären, sondern nur darum, weil sie zu versteckt lägen. Nichtsdestoweniger entschließt sich auch Platon, dieses Spiel zu versuchen. In seinem Gespräch, das den Namen »Timäus« führt, entwickelt er eine Reihe von Hypothesen, zum Teil in dichterischem Gewande, um die Bildung des Kosmos aus der Materie zu erklären, wie sie der Weltbaumeister vielleicht nach mathematischen Gesetzen vollzogen hat.
Manches in diesen Erklärungen, auf die ich jedoch nicht eingehen will, mutet uns ganz modern an. Die Lehre von den Elementen entnahm er der Schule der Pythagoreer, aber er formte sie geometrisch. Die kleinsten Teilchen der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde denkt er sich als regelmäßige Körper; die des Feuers haben die Gestalt von Tetraedern, die der Luft von Oktaedern, die des Wassers von Ikosaedern. Diese drei Elemente können sich in einander verwandeln, indem sich die Dreiecke, von denen die Partikeln der Elemente begrenzt sind, sowohl zu Tetraedern, wie Oktaedern oder Ikosaedern vereinigen können. Für Platon besteht nämlich das Wesen des Körpers in seiner Begrenzung, weil diese das Gesetz der Gestalt und Größe enthält; die Grenze bestimmt in der unbestimmten Ausdehnung des Raumes das, was als Körper zusammengehört. So meint Platon, daß z.B. aus dem acht Begrenzungsflächen des Oktaeders (eines Luftteilchens) zwei Tetraeder, d.h. zwei Feuerteilchen entstehen können. Ebenso ist ein Wasserteilchen als Ikosaeder äquivalent 2-1/2 Luft- oder 5 Feuerteilchen.
Man kann hieraus die Ähnlichkeit und den Unterschied seiner Auffassung und der modernen recht deutlich erkennen. Auch bei Platon ist ein Teil der Körper in andere verwandelbar,