Zunächst gilt es, vor einem Versuche zu warnen, der einen Ausweg zu versprechen scheint, aber nur ein Irrweg ist. Wir sollen den Begriff der Natur recht erfassen. Nun wohl, wir hören ja so oft das Wort vom »Innern der Natur«, das uns ewig verschlossen bleibe. Könnten wir nur da hinein dringen, würden wir dort nicht vielleicht jene gesuchte Freiheit finden? Sollte sich das Geheimnis des Widerspruchs dort nicht lösen? In den Gedichten des Herrn von Haller, sechste Auflage, Zürich 1750, unter der Überschrift: »Die Falschheit menschlicher Tugenden, an Herrn Professor Stähelin, April 1730« lesen wir den oft ungenau zitierten Spruch:
»Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist,
Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schale weis't,«
Haller schließt damit den Abschnitt, in welchem er den gelehrten Eigensinn des Naturforschers verspotten will, der angeblich unlöslichen Problemen, dem Begriff des Körpers dem Wesen der Anziehung, der Fortpflanzung des Lichts, der Übertragung der Bewegung usw. nachsinnt, und er läßt nur noch die beiden Zeilen darauf folgen:
»Du hast nach reifer Müh und nach durchwachten Jahren,
Erst selbst, wie viel uns fehlt, wie nichts man weiß, erfahren.«
Gegen diese Schlußbemerkung kann niemand etwas einwenden. Es ist eine Tatsache, daß, je weiter die Forschung fortschreitet, nicht nur der einzelne mehr und mehr die Mängel seines Wissens erkennt, sondern, daß für die Wissenschaft überhaupt immer neue Probleme sich eröffnen. Die Erkenntnis ist niemals abgeschlossen. Die Natur bietet sich uns als Erfahrung dar, und diese ist keine fertige Tatsache, der wir uns eines schönen Tages bemächtigen könnten, sondern eine unendliche Aufgabe. Aber gerade in diesem Umstande, daß sich die Natur uns enthüllt als das Produkt der fort und fort schaffenden Tätigkeit der Forschung, gerade darin liegt der Beweis, daß es nicht berechtigt ist, von einem »Innern« der Natur zu reden gegenüber einer »äußern Schale«, die allein uns zugänglich sei. Denn was wir als Naturerfahrung durch unsre Arbeit gewinnen, das ist freilich immer nur ein Bruchstück, aber es ist nicht eine Schale, ein äußerer Bestandteil, hinter welchem noch ein unerreichliches Innre stecke. Was unsre Erkenntnis umfaßt, daß ist in diesem Augenblick wirklich die volle Natur, nur daß die Natur selbst etwas Unerschöpfliches ist, das mit der Arbeit des Geistes zugleich wächst und uns deswegen zwar stets neue, aber nicht hoffnungslose Probleme stellt. Die Tatsache, daß die Naturerkenntnis etwas Unvollendbares ist, wird durch das Bild von dem Innern und der Schale nicht getroffen, wohl aber werden dadurch neue irreführende und schwerwiegende Mißverständnisse heraufbeschworen. Naturwissenschaft und Philosophie, damit die ganze Gestaltung unseres Weltbildes, sind daran interessiert, daß wir eine zutreffende Auffassung darüber gewinnen, inwieweit wir überhaupt zu dem Ausdruck »Inneres und Äußeres« inbezug auf die Natur berechtigt sind.
Goethe ärgerte sich ganz besonders über den Hallerschen Spruch. Sein Gedicht »Allerdings« ist so bezeichnend, daß wir es hierher setzen müssen.
»Ins Innre der Natur –«
O du Philister! –
»Dringt kein erschaffner Geist.«
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
»Glückselig, wenn sie nur
Die äußre Schale weist!«
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen;
Ich fluche darauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale;
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe Du nur allermeist,
Ob Du Kern oder Schale seist.
Worauf Goethe »verstohlen flucht«, das ist der künstliche Gegensatz, der mit jener »philiströsen« Auffassung aus dem Leben des Menschen fälschlich in die Natur hineingetragen wird. In unserm Selbstgefühl erleben wir die Gewißheit, daß die sittliche Persönlichkeit des Menschen ein Selbstzweck ist, daß die Handlungen der Menschen sich nach einer Gesetzlichkeit bestimmen, die in der unwiderstehlichen Forderung »Du sollst« unserm Willen ein Ziel setzt. Auf der andern Seite sehen wir unser Leben Bedingungen unterworfen, die von unserm Willen unabhängig sind; wir erkennen unser individuelles Dasein eingeschlossen in das Geschehen, in welchem die Körper im Räume sich naturnotwendig gestalten. Diese gegenseitige Abhängigkeit aller Vorgänge in Raum und Zeit ist, wie schon oben gesagt, das, was wir Natur nennen, und insofern gehören wir selbst zur Natur. Da wir uns aber bewußt sind, uns selbst als vernünftige Wesen Zwecke zu setzen, so entsteht leicht der Irrtum, daß wir auch in dieser freien Tätigkeit mit zur Natur gehörten. Dann müßten wir also erwarten, daß in der Natur gleichfalls eine solche Gesetzgebung des Willens vorhanden sei; wir müßten erwarten, daß es eine Stelle in der Natur gebe, an welcher nicht mehr jeder Vorgang notwendig durch andre bedingt ist, sondern wo in den Dingen, ähnlich wie der Wille im Menschen, eine Freiheit der Bestimmung vorhanden ist, derzufolge sie für sich selbst fordern, in einer bestimmten Weise zu sein, also auch anders zu sein, als aus den Mechanismus des Naturgeschehens allein folgen würde. Soweit aber die Erfahrung fortschreitet, gelangen wir niemals an eine solche Stelle, an welcher die kausale Bedingtheit der Natur aufhörte; und wir können auch an keine solche gelangen, weil die Möglichkeit der Naturerkenntnis eben darauf beruht, daß wir die unmittelbare sinnliche Erfahrung in gesetzlichen Beziehungen festlegen. Wohin auch die Naturerkenntnis vordringe, immer finden wir die Notwendigkeit des Geschehens, weil sie die Voraussetzung dazu ist, daß der Inhalt unsrer Erfahrung den Charakter der Naturgesetzlichkeit annimmt.
Da nun die Natur für jeden Standpunkt unsrer Erfahrung in zwei Teile zerfällt, in einen solchen, den unsre Erkenntnis durch Beobachtung und Rechnung bereits in klare Gesetze aufgelöst hat, und in einen solchen, der dieser Analyse noch als Aufgabe harrt, so liegt es nahe, in diesem noch nicht erkannten Teile der Erscheinungen jene geheimnisvolle Stelle zu suchen, wo die Zweckbestimmungen in die Natur eingreifen. Es entsteht die Vorstellung von zielstrebenden Kräften, von inneren Bildungstrieben, von unzugänglichen organischen Gewalten, die in der Natur ebenso tätig seien, wie im Leben der Menschheit die Selbstbestimmung der Vernunft auftritt. Diese mystische Region nennt man das »Inn're der Natur«. Im Gegensatz zu diesem Innern heißt dann die bereits erkannte Natur das »Äußere«. Durch den weiteren Fortschritt der Erkenntnis wird nun jenes angebliche Innere in ein Äußeres verwandelt, ohne aber den vermuteten Kern zu zeigen; und da die Erkenntnis nie zu Ende gelangt, so ist es selbstverständlich, daß »ins Inn're der Natur kein erschaffener Geist« dringt.
Hieran ist aber nur soviel richtig, daß es immer einen Rest gibt, der von der Erkenntnis noch nicht als gesetzliche Natur begriffen ist. Falsch dagegen ist es, diesen unerkannten Rest als ein unerkennbares Innere gegenüber einer erkennbaren Schale zu bezeichnen.
Zu diesem schiefen Bilde von einem Innern der Natur verleitet nun weiter die Mißdeutung eines zweiten Gegensatzes, des Gegensatzes von Geist und Körper, oder Seele und Leib.
»Inneres« und »Äußeres« drücken Beziehungen aus, die den Verhältnissen des Raumes entnommen sind; sie bedeuten die Lage eines Raumteils inbezug auf einen begrenzten Raum. Für einen Kasten, für mein Zimmer, für ein Haus gibt es ein Inneres und ein Äußeres. Diese berechtigte Trennung wird nun fälschlich auf mein »Ich« übertragen; man spricht auch inbezug auf unser Bewußtsein von einem Innern, gegenüber einem Äußern. Da nämlich mein Geist, meine Seele oder wie man das individuelle Bewußtsein nennen will, niemals ohne meinen Leib ist, so gebrauchen wir die Bezeichnung »Ich« für jenes erfahrungsmäßige Zusammen meines Leibes mit meinem Bewußtsein. Alsdann hat der Ausdruck Inneres und Äußeres einen Sinn, aber nur für meinen Leib, denn nur dieser ist im Räume; in diesem Sinne ist z. B. der Mond draußen. Inbezug auf mein Bewußtsein