ETWAS FEHLT AN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE
Francis Crick, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Mitentdecker der DNA-Doppelhelix, war davon überzeugt, dass die komplexe Ausgestaltung der Bausteine des Lebens das Ergebnis von etwas Höherem als einer zufälligen Laune der Natur sein müsse. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Pionierarbeit war er einer der ersten Menschen, welche die Komplexität und reine Schönheit jener Moleküle bezeugten, die Leben ermöglichen. Im hohen Alter setzte Crick seine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel, indem er öffentlich erklärte: »Ein ehrlicher Mensch, bewaffnet mit all dem Wissen, das uns heute zur Verfügung steht, kann nur zu der Auffassung gelangen, dass der Ursprung des Lebens geradezu einem Wunder gleichkommt.«4 In der Welt der Wissenschaft gilt eine solche Äußerung als Ketzerei, deutet sie doch an, dass etwas anderes als zufällige Evolution zu unserer Existenz geführt hat.
Das Gefühl, dass mehr hinter unserer Geschichte stecken muss, ist nicht neu. Archäologische Entdeckungen zeigen, dass sich vorzeitliche Menschen – beinahe überall – mit mehr als nur ihrer unmittelbaren Umgebung in Verbindung wussten. Sie fühlten, dass wir unsere Wurzeln in anderen, unsichtbaren Welten haben und dass wir letztlich Teil einer kosmischen Familie sind, die in jenen Welten lebt.
Im Popol Vuh, einem heiligen Text der alten Maya, wird zum Beispiel beschrieben, wie die »Vorväter« die Menschheit geschaffen haben, während die christliche Bibel und die hebräische Tora beschreiben, dass wir die Abkömmlinge weiser und machtvoller Wesen sind, die mit einer größeren, jenseitigen Intelligenz in Verbindung standen.5 6 7 Könnte es eine einfache Erklärung dafür geben, warum uns ein solches Bewusstsein derart stark, in so unterschiedlichen Traditionen, erhalten blieb und so lange überdauerte? Ist es möglich, dass unser Gefühl, dass wir einen bewusst geplanten Ursprung haben und über ein größeres Potenzial verfügen, auf etwas Wahrem beruht?
Wenn wir die Frage stellen, wer wir sind, lautet die kurz zusammengefasste Antwort, dass wir nicht das sind, was uns beigebracht wurde, sondern weitaus mehr, als sich die meisten von uns jemals vorgestellt haben.
WIR SIND EINE SPEZIES VON GESCHICHTENERZÄHLERN
Seit der Zeit unserer frühesten Urahnen bedienten wir uns Geschichten, um die Welt um uns herum zu erklären und uns in ihr zu verorten. Manchmal beruhen unsere Geschichten auf Tatsachen, manchmal auch nicht. Einige Geschichten sind metaphorisch zu verstehen. Wir haben diese Geschichten benutzt, um das Unerklärliche zu erklären und unserer Existenz einen Sinn zu geben.
Die alten Ägypter zum Beispiel hielten die Erde, den Raum unterhalb der Erde und den Himmel über ihr für jeweils eigene Welten. In ihrer Sicht der Schöpfung schwamm die Erde unter ihren Füßen auf Nun, einem urzeitlichen Ozean, der die Quelle des Nils darstellte. Der Himmel war aus dem Körper der Göttin Nut geformt. Die Kuppel von Nuts rundem Bauch wurde zur Heimstatt der Sonne und der Sterne, während sie sich mit dem Gesicht nach unten über die Erde beugte. Das Reich unter der Erde, Duat, war der Ort, an den die Sonne sich in der Nacht begab, nachdem sie abends am Horizont versank.8
Mit all diesen Reichen wurden Gottheiten – Götter und Göttinnen assoziiert, die eine machtvolle Rolle im täglichen Leben der alten Ägypter spielten. Und obwohl diese Geschichten keine wissenschaftliche Grundlage hatten, funktionierten sie für die Menschen der damaligen Zeit. Sie boten ihnen ein System, um das zu erklären, was sie in ihrer alltäglichen Welt erlebten, und halfen ihnen, ihren Platz in der Ordnung der Dinge zu finden.
Auch heute noch bedienen wir uns Geschichten, um unsere Welt zu erklären. Und unsere Geschichten haben eine Funktion, die wichtiger ist als jemals zuvor. Nicht nur liefern sie uns das Wissen, mit dem wir von Krankheit und Heilung bis hin zu unseren Beziehungen und Liebschaften alles regeln. Auch die Zukunft unseres Planeten und das Überleben unserer Art, die heute auf dem Spiel stehen, hängen auf einer globalen Ebene davon ab, welche Geschichten wir bevorzugen. Aus genau diesen Gründen ist es lebenswichtig, dass wir einander die richtige Geschichte erzählen.
UNSERE GESCHICHTEN BESTIMMEN UNSER LEBEN
Wir wertschätzen die Geschichten, die wir erschaffen, sehr. Als Individuen teilen wir anderen oft voller Stolz die Geschichte unserer Familie und die Leistungen unserer Vorfahren mit. Als Nationen feiern wir die sportlichen Erfolge unserer Mannschaften bei den Olympischen Spielen, betonen gerne die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, die unsere Astronauten zum Mond fliegen ließen, und schwenken die Fahnen unserer Länder. Manchmal ertappen wir uns aber auch dabei, dass wir Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind, verteidigen, obwohl neue Entdeckungen beweisen, dass diese Geschichten falsch sind.
Eben diese Neigung, an einer vertrauten Geschichte festzuhalten, auch wenn sie durch neue Beweise eigentlich längst widerlegt ist, kann das größte Hindernis sein, wenn es darum geht, eine gesunde Einstellung zu unserer Welt der Extreme zu entwickeln.
Leitsatz 5Die Geschichten, die wir uns über uns erzählen – und glauben –, bestimmen unser Leben.
Ein häufig behaupteter Grundsatz besagt, dass wir etwas als Tatsache zu akzeptieren beginnen, wenn wir es nur oft genug hören, gleichgültig, ob es wahr ist oder nicht. Die geschönte Geschichte des Tabakrauchens, die bis in die frühen 1960er Jahre allgemein akzeptiert war, ist ein perfektes Beispiel. Bis zu einem Bericht über die gefährlichen Folgen des Zigarettenrauchens aus dem Jahr 1964 engagierte sich die amerikanische Tabakindustrie in einer gewaltigen Medienkampagne, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Rauchen eine ungefährliche oder sogar gesunde Gewohnheit sei. Griffige Slogans waren in der Werbung in Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen üblich, darunter solche wie »Wenn du zur Völlerei neigst, greife lieber zu einer Lucky«, »Ich schütze meine Stimme mit Luckys« oder »Als Ihr Zahnarzt würde ich Viceroys empfehlen«.9
Ein besonders beunruhigendes Werbeplakat für Camel-Zigaretten aus den 1940er Jahren behauptete, dass, laut einer landesweiten Umfrage, »mehr Ärzte Camel rauchen als jede andere Zigarette«.10 Eine nähere Überprüfung der Befragung enthüllte den Rest der Geschichte. Die Fragen waren Ärzten gestellt worden, die bei Tagungen und Konferenzen kostenlose Päckchen Camel-Zigaretten bekommen hatten, bevor sie an der Umfrage teilnahmen. Nachdem sie die kostenfreien Proben erhalten hatten, wurden sie gefragt, welche Marken sie am liebsten mögen oder in ihren Taschen haben. Die Proben verzerrten die Antwort sehr wirksam zugunsten der Camels. Die amerikanischen Konsumenten vertrauten und glaubten solchen und anderen Werbeanzeigen. Wenn eine Zigarette für Ärzte ungefährlich ist, dann muss sie doch schließlich auch für jeden anderen unschädlich sein, nicht wahr?
Die Wahrnehmung solcher Botschaften und der Tabakkonsum selbst änderten sich allerdings für immer durch eine bahnbrechende Untersuchung des US Surgeon Generals, des Sanitätsinspekteurs der Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal belegte diese Studie wissenschaftlich, was viele Menschen bereits intuitiv geahnt hatten. Sie beschrieb einen direkten Zusammenhang zwischen Tabakkonsum, chronischer Bronchitis und Lungenkrebs. Die Studie stellte fest: »Das Komitee urteilt, dass das Rauchen von Zigaretten wesentlich zur Sterblichkeit bei bestimmten Krankheiten sowie der allgemeinen Todesrate beiträgt.«11 Bis 1965 hatte man dann die Tabakindustrie verpflichtet, die mittlerweile altbekannten Warnungen auf jedem verkauften Tabakprodukt zu platzieren.
Zweck dieses Beispiels ist es zu zeigen, dass sich eine von den Mainstreammedien und der breiten Öffentlichkeit geteilte Überzeugung – dass Rauchen harmlos sei – mit der Zeit wandelte. Sie musste sich wandeln, weil die Belege für schwere Krankheiten, an denen so viele Raucher litten, ganz einfach nicht zu der verbreiteten Story von Unbedenklichkeit